Sonntag, 16. September 2018 - ergänzt am Dienstag, 17. Juli 2019
Nachhaltige Vollzugsdefizite: Über die Nitratstudie des Kreises Viersen
Der „Hambacher Forst“ und die Trinkwasserbrunnen im Kreis Viersen haben zweierlei gemeinsam. Sie stehen als Symbol für das Scheitern einer konsensorientierten Nachhaltigkeitspolitik und für den doppelzüngigen Umgang mit Vollzugsdefiziten. Das Gutachten zur interessegeleiteten Gewichtung zwischen Brand- und Klimaschutz am Beispiel des Hambacher Forsts fehlt noch. Das für das Verhältnis von Landwirtschaft und Trinkwasserschutz im Kreis Viersen liegt jetzt vor. Seine Sachlichkeit ist zwingend. Seine Ergebnisse sind alarmierend. Der Kreis Viersen muss sich Handlungsmöglichkeiten verschaffen und beim Schutz des Wassers aktiver werden. Eine Agrarwende ist ebenso überfällig, wie eine konsequentere Umsetzung europäischer Umweltrichtlinien.
An den offen liegenden Widersprüchen zwischen den Vorsorgeerfordernissen der Trinkwassergewinnung und den landwirtschaftlichen Gewinnerwartungen hat sich seit Jahrzehnten nichts geändert. Seit einem Viertel Jahrhundert setzt die Wasserwirtschaft im Kreis Viersen auf freiwillige Kooperationen mit der Landwirtschaft. Ihre Ziele erreichen sie nicht. Die Düsseldorfer Bezirksregierung verschleppt die Ausweisung von Wasserschutzgebieten. Zur einer längst überfälligen landesweiten Wasserschutzgebiets-verordnung schweigt das Umweltministerium. Die Überwachung der Stickstoffbilanz durch die Landwirtschaftskammer ist nicht transparent. Der Kreis Viersen muss sich Handlungsmöglichkeiten verschaffen und im Trinkwasserschutz aktiver werden.
Sachlich, lesenswert und allgemeinverständlich
Es geht um eine knapp 120seitige Metastudie der Aachener ahu AG, die Rainer Röder vom Amt für Technischen Umweltschutz im letzten Jahr in Auftrag gegeben hat. Ihr nüchterner Titel: „Nitratbelastung des Grundwassers im Kreis Viersen – Rahmenbedingungen, Ist-Situation und Handlungsfelder“. Ihr Inhalt: eine allgemeinverständliche Zusammenfassung der naturwissenschaftlich-fachlichen und rechtlichen Grundlagen der Nitratproblematik im Kreis Viersen. Die Studie beschreibt noch offene Forschungsfragen und Handlungserfordernisse für die Viersener Kreisverwaltung.
Ihr Ergebnisse überraschen nicht, helfen aber in der Argumentation gegen landwirtschaftliche Lobbyisten. Denn die konventionelle Landwirtschaft ist Hauptverursacher für die erhebliche Nitratbelastung im Kreis Viersen. Aber nicht Landwirte, sondern die örtlichen Wasserversorger werden dafür in Haftung genommen. Um sauberes Trinkwasser garantieren zu können, müssen Niederrheinwasser (NEW) und die Stadt- und Gemeindewerke im Kreis Viersen immer tiefere Grundwasserschichten anbohren. Aber auch die werden über so genannte geologische Fenster mit Nitrat belastet. Die freiwilligen Kooperationen zwischen Land- und Wasserwirtschaft in den Wasserschutzgebieten haben keine Trendumkehr bei den Nitratgehalten gebracht. Die novellierte Düngeverordnung wird wenig an der Nitratbelastung des oberflächennahen Grundwassers ändern. Die Bezirksregierung verschleppt die Ausweisung von Wasserschutzzonen für die Trinkwassergewinnung in Niederkrüchten, Nettetal und Willich. Das Gutachten fordert nüchtern: „Dieses Umsetzungsdefizit hinsichtlich fehlender Schutzgebietsausweisungen ist von Seiten der zuständigen Bezirksregierung dringend zu beheben“, denn dies sei an wichtiger Baustein für den umfassenden Schutz des Grundwassers vor weiteren Stickstoffeinträgen und schaffe die Möglichkeit einer verstärkten rechtlichen Zuständigkeit des Kreises Viersen.
„Wir wollen etwas tun“ statt „Wir sind nicht zuständig“
Das Gutachten zeigt pragmatisch eigene Handlungsmöglichkeiten für die Kreisverwaltuung als Untere Wasserbehörde auf. Denn der Viersener Landrat Andreas Coenen hatte schon bei der Vorstellung der ersten Zwischenergebnisse der Nitratstudie betont: „Wir wollen etwas tun. Und nicht nur deutlich machen, was wir alles nicht tun können.“ Daher stellt er am kommenden Dienstag ein Fünf-Punkte –Programm zur politischen Diskussion.
Noch ist offen, wie lange die lokalen und regionalen Vertreter der industriellen Agrarwirtschaft ihre wirtschaftlichen Glaubenssätze gegen naturwissenschaftlich belegte hydrogeologischen Begebenheiten durchsetzen können. Denn noch gelten in der „Mainstream-Nachhaltigkeit“ ökologische Naturgesetze und wirtschaftliche Gewinnerwartungen als gleichwertig abzuwägende Belange.
Mehr Beratung im Einvernehmen mit dem landwirtschaftlichen Berufsstand
Aus der Studie leitete der Kreistag am 13. Dezember 2018 einen Fünf-Punkte-Plan ab. In ihm geht es um Düngemittelüberwachung, Umsetzung der Düngeverordnung, zur Ausweisung von Wasserschutzgebieten und um den Transfer wasserwirtschaftlicher Daten. Den Fünf-Punkte-Plan schilderte der Landrat der Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur und Verbraucherschutz Ursula Heinen-Esser mit Schreiben vom 11. Januar und bat die Landesregierung entsprechende Maßnahmen zu veranlassen. In ihrem Antwortschreiben vom 8. April 2019 ließ die Ministerin den Kreis Viersen abblitzen. Sie sieht nicht „dass Änderungen in den zurzeit festgelegten Zuständigkeiten für die Kontrolle des Düngerechts zu deutlichen Verbesserungen führen würden“. Die Ministerin setzt auf Beratung und das „Einvernehmen mit dem landwirtschaftlichen Berufsstand“. Kreistags- und Regionalratsmitglied Bernd Bedronka hielt angesichts der massiven Nitratproblematik im Kreis Viersen diese Antwort für zynisch, der Landrat „für nicht zufriedenstellend“. Das Thema bleibt auf der Tagesordnung.
Samstag, 8. September 2018
Wasserschutz in der Region: Über Personalmangel, frisierte Nitratwerte und den guten Ton
Die grüne Regionalratsfraktion hatte im Juli angefragt. Die Düsseldorfer Bezirksverwaltung hat nun geantwortet. Die Ergebnisse sind alarmierend. Das Vollzugsdefizit im Umweltbereich kann kaum deutlicher dargestellt werden. Trotz der Vorgaben der europäischen Wasserrahmen- und Nitratrichtlinien und trotz des entsprechenden Landeswassergesetzes hat sich in den letzten Jahren nicht viel bewegt. Besonders irritierend sind die Werte und Vorgänge im Kreis Viersen.
Trinkwasser wird am Niederrhein hauptsächlich aus Grundwasser gemacht. Das verschafft den Wasserwerken andere Herausforderungen als die Wassergewinnung aus Uferfiltrat oder Talsperrenwasser. Um die Qualität des Trinkwassers zu schützen, gibt es die Wasserschutzgebiete. Dort werden Handlungen, die sich nachteilig auf die Gewässer auswirken können, verboten oder eingeschränkt. Der § 35 des Landeswassergesetz schreibt vor, dass die zuständige Behörde ein Wasserschutzgebiet durch ordnungsbehördliche Verordnung festsetzt. Für die Festsetzung von Schutzgebieten rund um kleinere Wassergewinnungsanlagen bis zu einer Entnahmemenge von 600.000 Kubikmeter jährlich sind die Kreise und kreisfreien Städte zuständig. Für größere Brunnen unserer Region besteht die zuständige Behörde vorrangig aus den Menschen, die im Dezernat 54 der Bezirksregierung arbeiten. Doch offenbar ist auch hier die berühmte Personaldecke zu knapp, denn selbst im direkten Einzugsbereich vieler Wasserwerke fehlen immer noch Wasserschutzzonen.
Hilden-Karnap
Seit 2003 bemühen sich zum Beispiel die Stadtwerke Hilden um eine Verlängerung ihres Wasserschutzgebiets Karnap. Im Januar 2016 endete die Verordnung. Doch bis heute kann die Bezirksregierung trotz angeblich hoher Priorität keine belastbare Aussage zu einer Folgeregelung treffen. Schuld seien Personalengpässe und die höheren Anforderungen an das hydrogeologische Gutachten. Nach einer Anfrage der grünen Regionalratsfraktion vom Mai 2016 hatte die damals noch unter grüner Leitung stehende Bezirksverwaltung Personal aufgestockt. Nunmehr habe sich – so die Bezirksregierung – „aufgrund von erneuten Abgängen die gleiche Personalsituation wie 2016 eingestellt“.
Dülken/Boisheim/Nette
Besonders erschreckend fällt die Antwort auf die Frage der grünen Regionalratsfraktion nach der Nitratkonzentration im Wasserkooperationsgebiet Dülken/Boisheim aus. Die seit 1993 bestehende Wasserschutzzone hat 2014 durch eine umstrittene Schweinemastgenehmigung eine gewisse regionale Berühmtheit erlangt. 2016 lautete die Antwort noch, dass der Nitratwert am Wasserwerk Nette ständig absinke. Heute gesteht die Bezirksregierung, dass die NEW bis 2013 eine Messstelle mit mehr als 300 mg Nitrat pro Liter aus den Erhebungungen gestrichen hat, weil sie eine derartig hohe Belastung für nicht repräsentativ oder plausibel gehalten habe. Seit 2014 - dem Jahr der Stallgenehmigung - erscheinen der NEW aber die Werte dieser Messstelle wieder plausibel, zumal sie mittlerweile wieder deutlich abgesunken seien. Nun wagt die Bezirksregierung keine Nitrat-Prognose mehr für die Dülken/Boisheim: „Belastbare Aussagen über die zukünftige Entwicklung lassen sich jedoch weder aus länger andauernden Absinken noch aus der derzeitigen Stagnation ableiten.“
Der Erfolg, den die NEW im vorigen Sommer nach 25 Jahren freiwilliger Kooperation zwischen Landwirtschaft und Wasserwirtschaft bejubelte, bedarf angesichts dieses Umgangs mit Nitratstatistiken wohl einer externen Überprüfung.
Erster Platz für den Kreis Viersen
Auf Wunsch der grünen Regionalratsfraktion hat die Bezirksregierung die Daten der Überwachung des unbehandelten Rohwassers und der Messtellen nach der Wasserrahmenrichtlinie ausgewertet und eine Übersicht der regionalen Nitratkonzentrationen im ersten Grundwasserstockwerk erstellt. Wenig überraschend: die Nitratwerte der Ackerflächen liegen deutlich über dem Durchschnitt. In den Kreisen Kleve und Viersen liegen auch alle anderen Messstellen über dem Durchschnitt. Einzig im Kreis Viersen befinden sich die mittleren Nitratkonzentrationen der Rohwasserbrunnen „deutlich über dem Grenzwert der Trinkwasserverordnung von 50 mg/l“.
Zwischen 1962 und 1982 hatte sich der durchschnittliche landwirtschaftliche Stickstoffeitrag verdoppelt. Im Oktober 1982 fragte daher eine Diskussionsveranstaltung der Viersener „VHS-Brennpunkt“-Reihe:“ Trinkwasser – bald ein teurer Luxus?“ Damals brachte Stadtwerke-Chef Peter Schade die anwesenden Landwirte mit dem Vorwurf auf, sie wollten ihre Ernten im Zuge der Industrialisierung maximieren statt optimieren und brächten deshalb unkontrolliert zu viel Stickstoff auf. Die Wasserwerke könnten daher den ab 1985 geltenden Höchstwert für Nitrat von 50 mg/l nur mit teuren technischen Maßnahmen einhalten. Er hatte Recht: noch heute gibt’s im Kreis Viersen Trinkwasser unter dem Nitratgrenzwert durch Verschnitt mit noch unbelasteten Wasser aus dem zweiten Grundwasserstock.
Das wird prekär durch eine „auskeilende Tonschicht im Kreis Viersen". Seit über 100 Jahren kommt es hier „auf den Ton an“. Jetzt weist die grundwasserschützende Schicht Löcher aus oder ist gar nicht mehr vorhanden. Nüchtern beschreibt die Bezirksregierung die Viersener Lage: „Durch eine Grundwasserförderung im tieferen Stockwerk beim gleichzeitigen Vorliegen von Fehlstellen in den Tonhorizonten in unmittelbarer Nähe wird der Prozess des Nitrateintrags noch beschleunigt.“
Mit einer Erweiterung der Wasserschutzgebiete ist allerdings vorerst nicht zu rechnen. Weil die Erarbeitung einer einzelnen Wasserschutzgebietsverordnung sehr viel Zeit beanspruche, warte die Bezirksregierung erst einmal ab, ob und wann das Umweltministerium von seinem Recht Gebrauch macht, per Verordnung Schutzbestimmungen für alle oder mehrere Wasserschutzgebiete Nordrhein-Westfalens festzulegen. Die „VHS-Brennpunkt-Frage“ von 1982 steht daher weiter unbeantwortet auf der Viersener Tagesordnung.