Dienstag, 12. März 2024
Klimakrise oder Systemkrise? - Über Gutachten des Bundesrechnungshofs und der Europäischen Umweltagentur
Der EU-Klimawandeldienst Copernicus meldet, dass die Menschen 2024 weltweit den wärmsten Februar seit Beginn der Aufzeichnungen erlebt haben. (1) Dabei ist Europa der Kontinent, der sich wegen des Klimawandels seit den 1980er Jahren doppelt so schnell erwärmt wie der globale Durchschnitt. Auf die katastrophalen Folgen der Erhitzung für Mensch und Natur ist Europas Umwelt-, Gesundheits-, Wirtschafts-, Sozial- und Kommunalpolitik schlecht vorbereitet. Das geht aus der am 11. März 2024 veröffentlichten ersten europäischen Klimarisikobewertung, dem sog. EUCRA Report (2) hervor. Sein Ziel ist es, die strategische Politikgestaltung zu unterstützen.
Extreme Hitze, die früher selten war, wird immer häufiger, während sich die Niederschlagsmuster ändern. Regengüsse und andere Niederschlagsextreme nehmen an Stärke zu, und in den letzten Jahren kam es in verschiedenen Regionen zu katastrophalen Überschwemmungen. Gleichzeitig ist in Südeuropa mit erheblichen Rückgängen der Gesamtniederschläge und stärkeren Dürren zu rechnen.
Diese Ereignisse gefährden ganze Ökosysteme, die Ernährungs- und Wassersicherheit, die Energiesicherheit und die Finanzstabilität sowie die Gesundheit der Bevölkerung, besonders der im Freien arbeitenden Menschen. Das hat Folgen für den sozialen Zusammenhalt und die gesellschaftliche Stabilität. Der Klimawandel ist ein Risikomultiplikator, der bestehende Risiken und Krisen verschärfen kann. Jedes der im Bericht identifizierten Klimarisiken hat das Potenzial, wirtschaftliche Schäden, soziale Notlagen und politische Turbulenzen zu verursachen. Besonders kritisch ist der Zustand der Meere und Wälder. Neben der klassischen Umwelt- und Gesundheitspolitik sei.
Die Lebensbedingungen auf dem gesamten Kontinent werden sich verschlimmern, heißt es in der Pressemitteilung der Europäischen Umweltagentur (3). Denn die Klimarisiken entwickeln sich schneller als die gesellschaftliche Vorsorge. Es gehe jetzt vor allem darum, Ökosysteme zu erhalten, die Menschen und die Infrastruktur vor Hitze und Überschwemmungen zu schützen und die Tragfähigkeit europäischer Solidaritätsmechanismen zu sichern. Beim Verständnis von Klimarisiken und der zugrundeliegenden Faktoren seien noch viele Wissenslücken zu schließen. Um Gesellschaften effizient an die Erderhitzung anzupassen, sei ein integrierter politischer Ansatz vonnöten, der mehrere politische Ziele gleichzeitig berücksichtigt. (2)
Bundesrechnungshof zur Energiewende
Ein schlechtes Zwischenzeugnis gibt es auch für die deutsche Energiewende. Die Windenergie an Land werde nicht in dem gesetzlich vorgesehenen Umfang ausgebaut. Der Zeitplan zum Zubau gesicherter steuerbarer Backupkapazitäten könne kaum noch eingehalten werden. Der Netzausbau liege sieben Jahre hinter der Planung zurück. Die Versorgungssicherheit sei gefährdet, weil Handlungsbedarfe zu spät zu erkennen seien. Die Stromkosten seien intransparent, die Annahmen zu optimistisch. Es gebe kein Konzept gegen zu hohe Strompreise. Die Bundesregierung schaue bei der Energiewende zu sehr aufs Klima und könne deren Auswirkungen auf Landschaft, Natur und Umwelt nur unzureichend bewerten.
Das sind einige der Aussagen, die der Bundesrechnungshof in seiner, am 7. März 2024 erschienen 58-seitigen Analyse zur Energiewende in Deutschland macht. (4)
Kay Scheller, Chef des Bundesrechnungshofs warnt: „Unser Bericht zeigt: Die bisherigen Maßnahmen zur Umsetzung der Energiewende sind ungenügend und bergen deshalb gravierende Risiken für die energiepolitischen Ziele. Die Bundesregierung ist im Verzug beim Ausbau der erneuerbaren Energien und der Stromnetze sowie beim Aufbau von Backup-Kapazitäten. Hinzu kommen Wissenslücken über die Umweltwirkungen der Transformation und kein Konzept gegen hohe Strompreise. Zugleich fehlt ihr ein integriertes Monitoring der Energiewende, das alle energiepolitischen Ziele in den Blick nimmt. So läuft die Bundesregierung Gefahr, dass mögliche Konflikte zwischen den energiepolitischen Zielen ungelöst bleiben. Sie sollte schnellstmöglich Kurskorrekturen vornehmen. Die Risiken für die Energiewende und damit für unseren Wohlstand sind groß. Die Bundesregierung sollte unsere Prüfungsfeststellungen nutzen, um die aufgezeigten Defizite abzustellen.“ (5)
Gemäß § 99 der Bundeshaushaltsordnung kann der Bundesrechnungshof den Bundestag, den Bundesrat und die Bundesregierung jederzeit über Angelegenheiten von besonderer Bedeutung unterrichten. Die Umsetzung der Energiewende gilt seit 2016 als eine solche Angelegenheit.
Der Bundesrechnungshof geht mittlerweile alle drei Jahre der Frage nach, wie ordentlich und wirtschaftlich die Bundesverwaltung die Aufgaben erledigt hat, die sich z.B. aus dem Energiewirtschaftsgesetz, dem Klimaschutzprogramm, der nationale Wasserstoffstrategie, oder den Gesetzen für die Beendigung der Kohleverstromung ergeben. Dabei untersucht der Bunderechnungshof auch, wie plausibel die Annahmen der zuständigen Ministerien sind.
„Sicher, bezahlbar und umweltverträglich“ – An diesen drei Kriterien hat der Bundesrechnungshof seinen aktuellen Bericht ausgerichtet. Die Vorgängerberichte vom 28. September 2018 und vom 30. März 2021 beschäftigten sich vorrangig mit den Themen Steuerung, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit. (6)
2018 (7) und 2021 (8) warf der Bundesrechnungshof dem Bundeswirtschaftsministerium unter Leitung von Peter Altmaier vor, die Energiewende unzureichend zu kontrollieren und mangelhaft zu steuern. Der Rechnungshof vermisste damals ein realistisches Monitoring zur Versorgungssicherheit und verbindliche Indikatoren für die Preisgünstigkeit von Strom.
Kay Scheller befürchtete bereits am 30. März 2021, dass die Bundesregierung die Akzeptanz des Generationenprojekts „Energiewende“ aufs Spiel setze und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands gefährde: „Seit unserer letzten Bilanz in 2018 hat sich zu wenig getan, um die Energiewende erfolgreich zu gestalten. Das ist ernüchternd. Die Bundesregierung steuert den Transformationsprozess weiterhin unzureichend. Das gefährdet eine sichere und bezahlbare Stromversorgung. Mehr noch: Die Energiewende droht Privathaushalte und Unternehmen finanziell zu überfordern.“ (8)
Seither hätten sich – nicht zuletzt durch den Ukraine-Krieg - die Risiken in allen Bereichen der Energiepolitik verschärft, stellt der Bundesrechnungshof am 7. März 2024 fest.
Politische Steuerung
Die wachsenden Lücken zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Klima- und Energiepolitik und die immer lauter werdenden Warnrufe deuten an, dass die derzeitige Politik sich in kritische Situationen manövrieren könnten, die nicht mehr steuerbar sind.
Manche halten Entbürokratisierung, Markentfesselung und Beschleunigung für die Lösung, andere suchen nach einem Ausweg aus den globalen Verdrängungskonkurrenzen. Offenbar sind viele Akteure mit dem unternehmerischen und politischen Risikomanagement überfordert.
Die europäische Klima- und Umweltpolitik hat derzeit einen schweren Stand. Von einer geoökonomischen Zeitenwende ist die Rede. Vermeintlich konservative Politiker und Politikerinnen haben das EU-Gesetz zur Wiederherstellung der Natur an entscheidenden Stellen abgeschwächt und die Verordnung zur Verringerung des Pestizideinsatzes zu Fall gebracht. Der Bodenschutz wird ausgehebelt. Eine an Nachhaltigkeit orientierte europäische Wirtschaftspolitik wird zunehmend von sicherheitspolitischen und geostrategischen Gedanken überlagert. Im Europawahlkampf werden Ängste geschürt: vor Überhitzung, Deindustrialisierung, Stromausfällen, Migration…
Verkauf der Zukunft
Seit fast einem halben Jahrhundert wissen die Menschen, dass am Ausstieg aus den fossilen Energien kein Weg vorbeiführt und dennoch ist viel zu wenig passiert. Jens Beckert, Direktor am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung erklärt es so: „Beim Klimawandel handelt es sich um ein ´tückisches` Problem, für das es keine einfache Definition und keine einfache Lösung gibt. Es gibt zu viele widerstreitende Interessen und zu wenig Koordination. Wir verkaufen unsere Zukunft für die nächsten Quartalszahlen, das kommende Wahlergebnis und das heutige Vergnügen. Unsere Gesellschaftsordnung kommt mit dem Problem einfach nicht zurecht.“ (9)
Welche Mechanismen bestimmen das (Nicht-) Handeln in der Klima- und Nachhaltigkeitspolitik? Woran erkennt man und verhindert man Greenwashing und nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit? Welche Technologien sind für Klima- und Umweltschutz die vielversprechendsten? Wie sieht eine naturpositive Wirtschaft aus? Wer fängt mögliche Verluste bei Fehlentscheidungen auf? Wie erkennen wir (un)heilvolle Wechselwirkungen? Wie sieht ein gutes Verhältnis von gesellschaftlicher Planung und Marktmechanismen aus? Wie entsteht Konsens für eine große sozialökologische Transformation, die das Wirtschaften und die Lebensbedingungen der Bevölkerung von Grund auf umwälzen wird?
Welche Macht-, Eigentums- und Anreizstrukturen fördern das ‚fossile Denken‘ ? Wie können neue Bündnisse aussehen, um eine effektive Klima- und Nachhaltigkeitspolitik durchzusetzen? Was kennzeichnet ein gutes verkehrsminderndes, ressourcen- und energiesparendes Leben? Wie entstehen gute Arbeit und ein starker Sozialstaat? Welche Mächte und Einstellungen blockieren eine sicherheitsstiftende Klima- und Energiepolitik?
Begann die menschengemachte Erderwärmung mit der Menschheit oder mit der kapitalistischen Industrialisierung? Warum bleiben die Schäden der wirtschaftlichen Naturverwertung in den Marktpreisen unberücksichtigt?...
Die 2024-er Gutachten des Bundesrechnungshofs und der europäischen Energieagentur wecken die Sehnsucht nach einer umfassenden Demokratie, in der gesellschaftliche und politische Planung, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft transparent und zielorientiert zusammenwirken. Eine Demokratie, die offen und allgemeinverständlich über kapitalistische Wachstumszwänge, über die Absurditäten des Eigentumsrechts und über die Unüberwindbarkeit der planetaren Grenzen debattiert. Eine Utopie?
System change not climate change?
Jens Beckert sucht lieber schrittweise nach pragmatischen Wegen: „Bei allen utopischen Großlösungen, die mir begegnen, lässt sich leicht durchbuchstabieren, weshalb sie nicht politikfähig sind. Die Unternehmen wollen wachsen. Die soziale Integration unserer Gesellschaft beruht ganz wesentlich auf Konsum. Politisch geht es darum, Zugewinn zu ermöglichen, damit man etwas zum Verteilen hat. Ansonsten läuft man in Verteilungskonflikte, die politisch kaum durchzustehen sind, siehe Heizungsstreit, siehe Bauernproteste - und das sind ja erst Anfänge. Man muss sich diesen Realitäten stellen. […] Ich glaube, wir müssen uns eingestehen, dass wir den Klimawandel nicht bei den Pariser Klimazielen stoppen werden. Wir müssen uns auf eine zukünftig 2,5 oder sogar 3 Grad wärmere Erde einstellen.“ (9)
Vorschläge à la „System change – not climate change“ hält Becker für Träumereien: „Es gibt zwar gute Gründe, weshalb es weniger Wachstum und weniger Konsum brauchte. Aber wenn man politisch darüber nachdenkt, gibt es keine Mehrheiten, um das durchzusetzen. Eine realistische Klimapolitik darf sich deshalb nicht solchen Träumereien hingeben, die zu nichts führen.“ (10)
Wie werden wohl die 2023 oder 2024 geborenen Kinder auf derartige vermeintlich realpolitische Annahmen reagieren, wenn sie eines Tages im Rückblick durchschauen, wie und was heute gedacht wurde?
Der Klimatologe Stefan Rahmstorf hält eine 3-Grad-Welt für eine existenzielle Gefahr für die menschliche Zivilisation, verweist auf das erwartete Wetterchaos mit tödlichen Hitzewellen, die verheerenden Monsterströme, die anhaltenden Dürren, die weltweiten Hungerkrisen, die umkippenden Öksosystemen, auf failed states und die riesigen Menschenzahlen auf der Flucht.
Der Biologe Bernhard Kegel spricht vom „Ende der Biosphäre wie wir sie kennen“. Die Klimaökonomin Leonie Wenz und die Physikerin Friederike Kuik nehmen angesichts der vielen Unsicherheiten an, dass die wirtschaftlichen Kosten des Klimawandels nach oben offen sind, sind sich aber sicher, „dass sie jene eines ambitionierten Klimaschutzes deutlich übersteigen.“ (11).
Offenbar beginnt ambitionierter Klimaschutz mit drei Fragen: Wollen oder müssen Unternehmen wachsen? Geht soziale Integration hauptsächlich über den Konsum? Ist es Aufgabe der Politik, Zugewinne zu ermöglichen, um sie verteilen zu können?...
Verweise
1. Tagesschau. Auch der Februar war warm wie nie. [Online] 7. März 2024. https://www.tagesschau.de/ausland/waermster-februar-copernicus-100.html
2. European Environment Agency. EEA Report No 1/2024. [Online] 11. März 2024. https://www.eea.europa.eu/publications/european-climate-risk-assessment
3. Europäische Umweltagentur. Europa ist nicht auf die sich rasant verschärfenden Klimarisiken vorbereitet. [Online] 11. März 2024. https://www.eea.europa.eu/de/highlights/europa-ist-nicht-auf-die
4. Bundesrechnungshof. Bericht nach § 99 BHO zur Umsetzung der Energiewende im Hinblick auf die Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Umweltverträglichkeit der Stromversorgung. [Online] 7. März 2024. https://www.bundesrechnungshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/Berichte/2024/energiewende-volltext.pdf?__blob=publicationFile&v=4
5. Bundesrechnungshof. Energiewende nicht auf Kurs: Deutschland hinkt seinen ambitionierten Zielen hinterher. [Online] 7. März 2024. https://www.bundesrechnungshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/energiewende.html?nn=23102
6. Bundesrechnungshof. Bericht nach nach § 99 BHO zur Umsetzung der Energiewende im Hinblick auf die Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit bei Elektrizität. [Online] 30. März 2021. https://www.bundesrechnungshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/Berichte/2021/versorgungssicherheit-und-bezahlbarkeit-von-strom-volltext.pdf?__blob=publicationFile&v=1
7. Deutscher Bundestag. Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof - Bericht nach § 99 der Bundeshaushaltsordnung über die Koordination und Steuerung zur Umsetzung der Energiewende durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Drucksache 19/4550. [Online] 28. September 2018. https://dserver.bundestag.de/btd/19/045/1904550.pdf
8. Bundesrechnungshof. Bund steuert Energiewende weiterhin unzureichend. [Online] 30. März 2021. https://www.bundesrechnungshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/energiewende-steuerung.html
9. Vera Schroeder. Wunschdenken hilft nicht. Gespräch mit dem Soziologen Jens Beckert. Süddeutsche Zeitung. 12. März 2024
10. Florian Schoop. «Wie können wir einfach so weiterleben, obwohl wir seit drei Jahrzehnten wissen, was uns droht?». Neue Zürcher Zeitung. [Online] 11. März 2024. https://www.nzz.ch/gesellschaft/interview-beckert-klimawandel-ld.1820916
11. Klaus Wiegandt (Hg.). 3 Grad mehr - Ein Blick in die drohende Heißzeit und wie uns die Natur helfen kann, sie zu verhindern. München. oekom, 2022. 978-3-96238-369-5