niederrheinisch - nachhaltig 

Mittwoch, 23. Oktober 2024
Nachhaltig Sudern: Toxische Pommes und die Grenzlandgrünvergrauung

Sie ist ein Internetphänomen der Generation Z, beschäftigte sich von klein auf mit Kultur- und Mentalitätsunterschieden, integrierte die Ausländerin in sich erfolgreich weg und hielt sich am 10. Oktober 2024 zu einer Lesung bei den 14. Nettetaler Literarturtagen in der Kaldenkirchener Alten Fabrik auf. Sie verarbeitet ihre innere und äußere Realität mit Kunst. Sie mag komische Situationen, unangenehme Begegnungen, lustige Beschreibungen und Dinge, die nicht zusammenpassen. Und sie hat mit ihrem Examen versprochen, ihr juristisches Wissen im Dienste der Gerechtigkeit und des Rechts einzusetzen, sich nicht von Parteilichkeit, Eitelkeit, Gewinnsucht und persönlichem Vorteil leiten zu lassen sowie der Gleichheit und Würde der Menschen und dem Ansehen des Rechts zu dienen.

Die Rede ist von „Toxische Pommes“. Hinter der schrägen Bezeichnung verbirgt sich nicht nur die zelluläre Wirkung von Transfettsäuren oder zu hohen Acrylamidkonzentrationen, sondern auch Irina, die in Wien lebende Juristin mit dem geheim gehaltenen Nachnamen. Seit Beginn der Corona-Pandemie und dem Ende einer Beziehung veröffentlicht Toxische Pommes  - zunächst aus Langeweile und Frust im Homeoffice - auf Tiktok und Instagram gesellschaftskritische Satire-Kurzvideos. Toxische Pommes tritt seit 2022 zudem mit der szenischen Lesung „Ketchup, Mayo und Ajvar - Die sieben Todsünden des Ausländers“ als Solo-Kabarettistin auf. (1) (2)

Ein schönes Ausländerkind

Toxische Pommes hat einen autofiktionalen Roman geschrieben, der am 18. März 2024 veröffentlicht wurde: Ein schönes Ausländerkind. Darin erzählt sie die Geschichte einer Familie, die im beginnenden Jugoslawien-Krieg nach Österreich flieht: »Freunde und Nachbarn waren zu Ethnien und Religionen geworden. […] Auch meine Eltern hatten mittlerweile ihre Jobs verloren, sie waren gekündigt worden, weil sie keine Kroaten waren – sie stammten ursprünglich aus Serbien und aus Montenegro und waren zum Studium nach Kroatien gezogen. Beide kamen aus einfachen Verhältnissen, ihre Angehörigen waren ihr Leben lang Fabrikarbeiter gewesen, hatten im Feld oder im Stahlwerk gearbeitet, und sie waren die Ersten in ihren Familien, die ein Studium begonnen hatten.« (3) 

Kurz nach dem zweiten Geburtstag ihrer Tochter flüchtet das Paar von der Adria-Stadt  Rijeka nach Wiener Neustadt. Ihre akademischen Abschlüsse werden nicht anerkannt. Sie müssen in Österreich „neu anfangen“. Toxische Pommes zeichnet aus der Perspektive der heranwachsenden Tochter nach, wie sich vermeintlich defizitäre Identitäten in einem Land verändern, das Integration oft mit Assimilation verwechselt. Eine Zeitlang findet diese Tochter ihr Glück in einem Haufen stinkender Barbiepuppen, günstig erworben aus einem Brandschaden.

Während Mutter und Tochter die deutsche Sprache lernen und ihren gesellschaftlichen Radius erweitern, bekommt der Vater keine Arbeitserlaubnis und wird zum Hausmann. »Als ich zum Studieren nach Wien zog, erklärten mir meine neuen Freundinnen, wie feministisch sie das fanden. Doch damals starrten uns alle an, wenn mich mein Vater vom Kindergarten oder von der Schule abholte. Wenn ich Freunde zu Besuch hatte, wirkten sie amüsiert bis verstört, dass er bunte Obstteller zwischen unseren Malblöcken abstellte oder Spaghetti Bolognese für uns kochte, wenn wir vom Spielen erschöpft und hungrig waren […] wenn ich ehrlich zu mir war, freute ich mich insgeheim darüber, dass mein Vater keinen Job hatte. Er war mein bester Freund und ich glaube ich war auch seiner. Daher nannte ich ihn auch nie ‚Papa‘,  sondern immer nur ausschließlich bei seinem Vornamen. Er wiederum sprach mich ausschließlich mit ‚sine‘ an, was übersetzt ‚Sohn‘ bedeutet.  Am Balkan ist es übrigens völlig normal, alle Kinder so zu nennen - ganz egal welches Geschlecht sie haben. […] Nichtsdestotrotz konnte ich es nicht lassen, mich immer wieder zu fragen, ob sich mein Vater nicht insgeheim doch einen Sohn gewünscht hatte. Als ich ihm diese Frage einmal stellte, antwortete jedoch nur mit: „Ma nisam te uopšte trebao pustiti iz jaja“ („Ich hätte dich gar nicht erst aus meinen Eiern lassen sollen“). Damit war die Sache geklärt.« (3)

Erfrischend ehrlich und oft humorvoll beschreibt die Tochter mit feiner Beobachtungsgabe die sich mehrenden Spannungen in der Familie und zeichnet  aus ihrer Sicht nach, wie sich der geliebte Vater immer mehr abkapselt und sich von ihr entfernt.. Sie selbst ist eine ehrgeizige Einserschülerin und Leistungsschwimmerin, die besonders österreichisch sein möchte.  Je älter die Tochter wird, desto reflektierter werden ihre Schilderungen. Und am Schluss steht die lakonische Bilanz:  »Was hat uns Österreich gekostet? Meinen Vater seine Stimme, meine Mutter ihre Lebendigkeit. Und mich? Meinen Vater.«

Lust am Sudern

Toxische Pommes spricht im Roman, im Kabarett und ihren Videos schwierige Themen an -  mit Humor und radikaler Ehrlichkeit, ohne zu verletzen oder zu verallgemeinern. Sie demaskiert soziale Ungleichheiten, schafft Raum für individuelle Lebensläufe und scheut auch nicht davor zurück, ihre eigenen Erfahrungen und Widersprüche hervorzuheben oder sich selbst „auch mal zum Affen“ zu machen

Ihre Videos entstehen auch aus der „Lust am Sudern“ (4) oder als „liebevolles Verarschen“ – vor allem zu Themen wie Sexismus, Rassismus oder Klassismus. Sie erzielt Aufmerksamkeit, indem sie mit Klischees und Stereotypen spielt und einer widersprüchlichen Realität den Spiegel entgegenhält.

Das hat auch biographische Gründe: »Als ich mit Anfang 20 angefangen habe, als Universitätsassistentin am Juridicum zu arbeiten, war ich naiverweise sehr verwundert darüber, wie sich meine Kolleg:innen einen viel luxuriöseren Lebensstil leisten konnten, obwohl wir dasselbe Gehalt verdienten: Ich fand mich plötzlich in einer Welt wieder, in der Ja! Natürlich nicht bio genug war, und sich meine gleichaltrigen Kolleg:innen regelmäßig sogenannte Bio-Kistl mit saisonalem Obst und Gemüse von regionalen Bäuer:innen an die Institute liefern ließen, die so viel kosteten wie mein ganzer Wocheneinkauf. Sie gingen regelmäßig ins Burgtheater und in die Staatsoper und diskutierten über die besten und teuersten Kaffeemaschinenmodelle (die bis zu 16.000 Euro kosten können, wie ich gelernt habe). […] Trotz der scheinbar weltoffenen Atmosphäre in den Forschungsräumlichkeiten war ich zu Beginn meiner Tätigkeit als Universitätsassistentin die einzige Person mit einem nicht-österreichischen Namen an meinem Institut. Die Professoren waren alle weiß, großteils autochthone Österreicher und vor allem eins: cis Männer. Auf der Ebene der prae docs war zwar noch eine Geschlechterdurchmischung zu spüren, auf post doc-Ebene waren Frauen aber plötzlich wie weggewischt.« (4)

Jus-Skills

Toxische Pommes hat versprochen, sich für Gerechtigkeit einzusetzen und verfügt dank ihrer juristischen Ausbildung über die dafür notwendigen argumentativen und analytischen Fähigkeiten: »Im Grunde gibt es gar keinen so großen Unterschied zwischen dem Aufbau eines juristischen Arguments und dem eines Witzes.« (4) Wer argumentiert, will mit Differenzierung überzeugen, Vorurteile, falsche Harmonien, liebgewonnene Glaubenssätze oder hohles Pathos in Frage stellen, die Filterblasen Gleichgesinnter zum Platzen bringen und Räume der Verständigung mit andersbeseelten Menschen öffnen. 

Mit ihrer „juristischen Herangehensweise“ unterstützt Toxische Pommes bei der Abkehr vom Schwarz-Weißdenken und der Hinwendung zu einer differenzierten Betrachtung der vielfältigen Graustufen eines Lebens:  silbergrau, stahlgrau, mausgrau, zementgrau, bleigrau…

Auch die grüne NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur sprach auf dem 10. NRW-Nachhaltigkeitstag von einer „wunderbaren Welt der Grautöne“ (s.u.)
Grau hat viele Nuancen, gilt als neutral, ausgewogen, stabil, zuverlässig, langweilig oder monoton.  Stehen die Grautöne in der NRW-Nachhaltigkeitsdebatte für einen ausgewogenen Mittelweg bei der Transformation der gegenwärtigen Nicht-Nachhaltigkeit zu einer integrativen, biodiversen und klimaneutralen Gesellschaft? Verkörpert Grau nicht eher die Unentschlossenheit, Verzagtheit, Unsicherheit  und Tristesse gegenwärtiger Debatten? Oder sind die Grautöne ein Zeichen der Nachhaltigkeitsbürokratisierung?

Im Umgang mit gesellschaftlichen Grautönen setzt Toxische Pommes nicht selten einen überzeichnenden Sarkasmus ein. Der hilft ihr dabei, die Absurditäten und Ungerechtigkeiten des Alltags aufzudecken.  Toxische Pommes stellt Normen und Erwartungen infrage und entlarvt individuelle Doppelmoral. Sie zeigt dabei Empathie für Außenseiter und Unterdrückte.

Obwohl Toxische Pommes vor allem von jüngeren Menschen dominierte Plattformen  bespielt, fand sie mit ihrer  - von tiefgründiger Direktheit geprägten - Lesung auch beim älteren Publikum der Nettetaler Literaturtage in Kaldenkirchen Resonanz. Ihre Satire bezieht sich auf alltägliche Erfahrungen. So macht sie unangenehme Wahrheiten und die widersprüchlichen Facetten des Lebens auch einem breiteren Publikum zugänglich.

Nachhaltige und integrative Frittendebatte, ein Prolog und die Grauzonen 

Toxische Pommes hat sich derzeit von ihrer juristischen Tätigkeit freistellen lassen, um an einem neuen Kabarettprogramm und an einem neuen Roman zu arbeiten. 

Dabei könnte sie zum Beispiel den im Laufe des aktuellen Romans nicht wieder aufgegriffenen Prolog weiter ausmalen: »An einem schwülen Freitagnachmittag beschloss ich, unter meinem Schreibtisch ein Bett zu bauen. Mein Chef war in einer Besprechung, und die Kollegin, mit der ich das Büro teilte, hatte sich den Tag frei genommen.« 

Toxische Pommes illustriert mit Lakonie, wie sie in der kargen Amtsstube versucht, den Anschein der Vollbeschäftigung zu vermitteln. Sie beschreibt, wie ihre Arbeitstage gewöhnlich begannen:  »mit einer ausgiebigen Internetsuche nach Designertaschen und anderen gebrauchten Gegenständen, die ich nicht benötigte.«   Sie verrät,  mit welchem Losungswort man es bis ins Büro des österreichischen Bundespräsidenten schaffen könnte, warum die um 47 Minuten vorlaufende Wanduhr nur im Wege eines Anforderungsscheins korrigierbar ist, wieso man die große schwarze Tasse mit der Aufschrift ‚Bevor ich mich aufrege, ist es mir lieber egal‘ besser nicht benutzen sollte oder wer eine Behörde am Leben erhält und es damit den anderen Bediensteten ermöglicht, »nach einer ausgiebigen Mittagspause wieder an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren und auf Facebook Familienfotos zu sortieren.«

Integration und Nachhaltigkeit  sind dynamische Prozesse, die die eigene Identität in einen größeren Kontext einbetten.  Das setzt Gerechtigkeit, Respekt, Kooperation Vielfalt und das Streben nach einer gemeinsamen Zukunft voraus. 

„Knoflooksaus, ketchup, Joppie und das Vollzugsdefizit“: Wohl eher ungewollt setzte Irina am 10. Oktober 2024 mit ihrer Lesung des Prologs nicht nur die niederrheinisch-niederländische Frittendebatte in ein trübes Behördenlicht. Ihr toxisch-balkanisierter Humor und ihre Darstellung des Wiener Behördenalltags leistete damit einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Förderung einer Grenzlandgrünvergrauung. 

In der Frittendebatte geht es vordergründig um die Frage, welche Sauce am besten zu den beliebten Kartoffelsticks passt. Dieser Zweig der Frittologie ist alles andere als trivial, denn er geht weit über Mayonnaise oder Ketchup hinaus. Eine wesentliche Rolle spielen dabei grundsätzliche Aspekte der kulturellen Vielfalt, der Offenheit gegenüber Neuem,  der Identität,  der Zugehörigkeit und Heimat, der regionalen und saisonalen Verfügbarkeit, der Landwirtschaft, der Lieferketten, der Verpackung der Ernährung, der Gesundheit oder der Determinanten individuellen Konsumverhaltens.

Bürokratische Regulierung gilt als starr, schwerfällig und innovationshemmend. Sie erschwert engagierte Projektarbeit, entmutigt die Beteiligten, verlangsamt den Fortschritt, trägt zu Flexibilitätsverlusten und Innovationshemmungen bei. Bürokratie setzt auf Einhaltung von Vorschriften. Das lässt die eigentlichen Ziele des Handelns aus dem Blick geraten, führt zu sog. Vollzugsdefiziten  und ist teuer. Bürokratie untergräbt das Vertrauen und trägt zur  Entfremdung bei. 

Zur „wunderbaren Welt nachhaltiger Grautöne“ gehört daher auch das Prinzip der behördlichen Grauzone mit einer „zudringlichen Undurchdringlichkeit“  der oberen Nachhaltigkeitsinstanzen, von der sich nicht sagen lässt, ob sie der Selbsterhaltung oder einer Verstrickung ins Geschehen der eigenen Auslöschung“ dienen. (5)
»Wer in der Behörde umherirrt, macht die Erfahrung, daß das gesuchte Gegenüber in einem Nebel obskurer Instanzen verschwimmt. Keine zuständige Stelle läßt sich finden, die nicht auf eine höhere, kaum erreichbare verwiese. […] Es ist Kafkas Entdeckung, daß zum Man noch ein Über-Man gehört. Wer an dieses sich wendet, wird erfahren, daß es etwas Vergeblicheres gibt als das Gebet zum bedeckten Himmel, etwas Unerreichbareres als ein Sachbearbeiter unterer Stufe.« (5 S. 61)

Max Weber, Renate Mayntz, Franz Kafka, Peter Sloterdijk und einige andere haben die bürokratische Kartoffel  bereits zerlegt. Die Pommes  (Man) sind da, was noch fehlt, sind satirisch-toxische Saucen zum nachhaltig-integrativen Sudern, zum Beispiel über das Über-Man.

Ver- und Hinweise

1. Toxische Pommes. Instagram. [Online] https://www.instagram.com/toxische_pommes/

2. Toxische Pommes. TikTok. [Online] https://www.tiktok.com/@toxische_pommes?

3. Toxische Pommes. Ein schönes Ausländerkind. Paul Zsolnay Verlag Wien. 2024. 978-3-552-07410-1

4. Toxische Pommes. Gelöbnis an das standesgemäße Verhalten. Wie man als Jurist:in die Lust am Sudern im Internet und anderswo nutzen kann.  Juridicum 1/2022, S. 5 - 8 

5. Peter Sloterdijk. Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre. Suhrkamp Berlin. 2022. 978-3-518-43068-2

6. Hanser Literaturverlage: 5 Fragen an...Toxische Pommes [online]
https://www.hanser-literaturverlage.de/beitrag/5-fragen-an-toxische-pommes-b-148


Dienstag, 8. Oktober 2024

Die zehnte NRW-Nachhaltigkeitstagung und die wunderbare Welt der Grautöne

Am 7. Oktober 2024 fand in der historischen Stadthalle Wuppertal mit 750 Teilnehmenden und 60 Ausstellern die 10. NRW-Nachhaltigkeitstagung statt. Die NRW-Nachhaltigkeitstagungen dienen seit ihrer Duisburger Premiere am 21. November 2012 als Austauschplattform der so genannten Nachhaltigkeitsakteurinnen – und akteure aus Verwaltung, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft.

Sowohl NRW-Umweltminister Oliver Krischer als auch NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur nahmen aktiv in Wuppertal teil, die Umweltverbände nicht. Das Team „NachhaltigesNRW“ machte damit deutlich, worum es bei dieser Tagung ging: Nachhaltigkeit aus der Blase der ‚Ökoszene‘ herauszuholen, ihre gesellschaftliche Akzeptanz zu erhöhen und sie als Leitbild und Geschäftsmodell für die Wirtschaft zu etablieren. Bisher  sieht es so aus, als würde “die Wirtschaft” Nachhaltigkeit als bürokratisches Monster mit lästigen ESG-Berichtspflichten wahrnehmen.

Wirtschaftswachstum sei unentbehrlich, betonte Neubaur: „Unsere soziale Marktwirtschaft ist ein Erfolgsmodell.“  Sie gehe allerdings zu Lasten der Erde, denn „irgendjemand zahlt immer die Rechnung, wenn Nachhaltigkeit nicht der Treiber ist.“ Daher sei es notwendig Wirtschaftswachstum in die Bahnen der Nachhaltigkeit zu lenken, „Nachhaltigkeitsinseln“ entstehen zu lassen und Leitmärkte für nachhaltige Geschäftsmodelle aufzubauen.

Nachhaltigkeitspolitik und ein defektes Stellwerk

Nachhaltigkeitspolitik will gleichzeitig den sozialen Zusammenhalt und die Generationengerechtigkeit stärken sowie die ökologische und die wirtschaftliche Entwicklung verbessern - und das mit globaler Perspektive im  Rahmen der planetaren Grenzen.

Die spannende Frage ist,  wie daraus wettbewerbsfähige und gewinnbringende Geschäftsmodelle entstehen werden - in einer Zeit, in der kleine Unverpackt- oder Bioläden um ihr wirtschaftliches Überleben kämpfen.

Bekanntlich ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) kein guter Indikator für derartige Geschäftsmodelle. Es erfasst zwar wirtschaftliche Aktivitäten, berücksichtigt aber nicht deren Auswirkungen. Verkehrsunfälle, Katastrophen, Raubbau, Umweltverschmutzung tragen so zum Wirtschaftswachstum bei. Der Indikator gibt zudem keine Auskunft über die Verteilung des Wohlstands und ignoriert alle nicht marktwirtschaftlichen Aktivitäten wie ehrenamtliche Arbeit oder Hausarbeit.
Er müsse daher durch einen Nachhaltigkeitsindex ergänzt werden, unterstrich Oliver Krischer, der als Verkehrsminister auch einen Sektor vertrete, der nicht „on track“ sei. Er versprach, die ÖPNV-Misere in NRW mittelfristig und die transparente Kundeninformation über sie kurzfristig zu verbessern.

Wie dringend das ist, konnten die Tagungsteilnehmer*innen bestätigen, die die Rückreise von Wuppertal per ÖPNV über Düsseldorf antraten und wegen eines defekten Stellwerks zwischen Düsseldorf Hauptbahnhof und Düsseldorf-Gerresheim in Wuppertal-Vohwinkel strandeten. Sie erlebten, welche überraschende Zeitverzögerungen Fahrtabbrüche  Zugausfälle und Falschinformationen über Zugalternativen und Schienenersatzverkehr hervorrufen können…

»Prall gefüllt und knackig«

Das Programm der 10. Nachhaltigkeitstagung war mit  Kurzdiskussionen, Impulsvorträgen, Projektvorstellungen aus NRW (DIDOMOS, FidAR, BauenWohnenArbeiten, Green.OWL, Plastic Fischer GmbH, KluG, 3 E’s 4 Africa, Sonnenwagen) sowie Tanz- und Musikaufführungen prall gefüllt. Die Teilnehmenden konnten sich zwar mit Handabstimmungen und Mentimeter-Fragen beteiligen, verlegten aber viele Diskussionen unter- und miteinander ins Foyer der Stadthalle.

Intensivere Auseinandersetzungen hätten einige Beiträge, Projekte, Erkenntnisse, Anmerkungen, Analysen und Thesen verdient, z.B.

  • Hans-Christian Leonhard (unternehmer nrw) zur Bürokratie
  • Julia Merkelbach (Unternehmerin) zu den Nachhaltigkeitsmärkten
  • Bernhard Conzen (Rheinischer Landwirtschaftsverband) zur Ernährungssicherheit
  • Prof. Dr. Christina van Haaren (Uni Hannover) zu den Treibern des Flächenverbrauchs
  • Jörn Luft (trias) zum Boden als Gemeingut
  • Prof. Dr. Christa Liedtke (Wuppertal-Institut) zur Verteilungsgerechtigkeit und   vermeintlichen Konsumentensouveränität
  • Prof. Dr. Alexandra Philipsen (Universitätsklinik Bonn) zu den Verknüpfungen von Diversität,    ADHS und Autismus
  • Regine Kreitz (AG Kommunikation und Demokratie) zur Empfängerorientierung
  • Bettina Milz (Pina Bausch Zentrum) zur Bedeutung der analogen Stadtteilkommunikation
  • Prof. Dr. Friedrich Edelhäuser (Universität Witten-Herdecke) zur Sinnsuche
  • Jochen Trum (Westdeutscher Rundfunk) zum aus der Balance geratenen Biotop der öffentlichen Meinung und der Rolle der Plattformgiganten
  • Wolfgang Marquardt (Green.OWL)
  • Paul Claußen (Sonnenwagen)
  • Contimi Kenfack Mouafo (3 E’s 4 Africa)


Andrea Thilo
versuchte, mit ihrer Moderation den Referierenden kurze prägnante Merksätze zur ihrer Arbeit und ihren Thesen herauszukitzeln. Dennoch könnte sich eine Lektüre der hoffentlich zeitnah erscheinenden Tagungsdokumentation als Steinbruch für neue Ideen und Impulse erweisen.

Die kaum überschaubaren Herausforderungen einer nachhaltigen Welt und die offensichtliche Nicht-Nachhaltigkeit der Gegenwart führten auch zu Wuppertaler Phantasien von einer „wunderbaren Welt der Grautöne“ (Mona Neubaur) oder einem Angriff von Aliens als Treiber für global-nachhaltiges Handeln, den die Referentin und zukünftige Astronautin Dr. Suzanna Randall ins Spiel brachte.

Dass Nachhaltigkeit mit Zwiespalt, Zielkonflikten und paradoxen Überfrachtungen verbunden sein kann, verdeutlichte der „Erfinder der Zukunftskunst“ Prof. Dr. Uwe Schneidewind.  Der ehemalige Direktor des Wuppertal-Instituts amtiert derzeit als Oberbürgermeister und verabschiedete sich direkt nach seinem Eröffnungsvortrag, um Wuppertal auf der Expo Real, der internationalen Fachmesse für Immobilieninvestitionen in München, zu repräsentieren. Die Anreise erfolgt aus Zeitgründen wahrscheinlich per Flugzeug, wie die Essener Beigeordnete Simone Raskob vom Podium aus vermutete….

Hinweise

NRW 2030: Programmablauf Nachhaltigkeitstagung 2024
https://nrw-nachhaltigkeitstagung-2024.de/programm/programm.html

NRW 2030: NRW-Nachhaltigkeitstagungen
https://nachhaltigkeit.nrw.de/nachhaltigkeitstagungen


Dienstag, 12. März 2024

Klimakrise oder Systemkrise? - Über Gutachten des Bundesrechnungshofs und der Europäischen Umweltagentur

Gutachten des Bundesrechnungshofs zum Stand der Energiewende und der Europäischen Umweltagentur zum Schutz vor Klimafolgen werfen grundsätzliche Fragen zur politischen und wirtschaftlichen Steuerungsfähigkeit im Rahmen der nachhaltigen Entwicklung auf. Denn seit einem halben Jahrhundert wissen die Menschen, dass am Ausstieg aus den fossilen Energien kein Weg vorbeiführt und dennoch ist viel zu wenig passiert. Vielleicht liegt es daran, dass der menschengemachte Klimawandel nicht mit der Menschheit, sondern mit der kapitalistischen Industrialisierung begann. Lesen Sie mehr 

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