Mittwoch, 13. November 2024 - zuletzt bearbeitet am 15. November 2024
„Die Erde ist ein Ganzes, aber die Welt ist es nicht.“ – Über den grünvergrauenden Nachhaltigkeitsblues im November 2024
Der Prozess der Grünvergrauung gewinnt an Fahrt. Trump ist zurück. Das 1,5 Grad-Ziel ist gerissen. Die Zeiten der grünen Wende sind vorbei. Im Raum Valencia gab es eine Starkregenkatastrophe. Über 100.000 Menschen demonstrieren vor Wut über das Krisenmanagement. Die Auftragslage der Wirtschaftsunternehmen ist schlecht. Die Abhängigkeit von Rohstoffen aus China wächst. Die Nachhaltigkeitsziele der Dax-Unternehmen werden verfehlt. Die Öl- und Gasproduktion hat einen neuen Höchstwert erreicht und ist auf Expansionskurs. Die Laufzeiten überalterter Atomkraftwerke werden verlängert. Das Licht der deutschen Ampel leuchtet nicht mehr. Die Welt ist klima- und umweltpolitisch auf dem Weg in den Ruin und die fünfte Jahreszeit hat begonnen. Geldanlegerinnen und -anleger blicken wieder optimistischer in die Zukunft. Öl- und Rüstungsaktien erzielen saftige Gewinne. Der Frieden mit der Natur muss warten, denn die realen Kosten für die Produktionsprozesse werden immer noch nicht bilanziert, obwohl das die FDP bereits 1971 gefordert hat. Guyanas Wirtschaft boomt. Das sozial-ökologische Transformationsprojekt wird zur Zielscheibe einer politischen Gegenbewegung und scheint im Novembernebel des Jahres 2024 zu versinken. „Die Erde ist ein Ganzes, aber die Welt ist es nicht.“ (1 S. 31)
Nachhaltigkeit verfloskelt
Auch wenn sich „die Welt“ zur Nachhaltigkeit, zum Klima-, Ressourcen und Artenschutz bekennt, möchten viele wohlhabende Menschen offenbar weiter wirtschaften, sprechen und denken wie bisher. Das Triebwerk kapitalistischer und bürokratischer Strukturen scheint ihnen den unhaltbaren nicht-nachhaltigen Weg (2) (3) zu ebnen, „bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.“ (4)
Das könnte auch an den Verständnisproblemen und Zielkonflikten liegen, die auftauchen, sobald Nachhaltigkeit als Leitstern konkreter Entscheidungen dient. Der inflationär gebrauchte Begriff ist ein magisches, mehrheitsfähiges, leeres Gummiwort, das eine enorme Spannbreite von Deutungen enthalten kann. Fehler und Irrtümer in der Kommunikation über nachhaltige Entwicklung sind daher nicht auszuschließen. Das hat womöglich mit den Widersprüchen zu tun, den das „grüne Projekt“ einer Neugestaltung des Mensch-Natur-Verhältnisses nach westlichem Muster in sich trug:
- dem zwischen der persönlichen Emanzipation und Autonomieentfaltung durch Überschreiten von Grenzen und der zum Schutz zukünftiger Generationen notwendigen Begrenzungen
- dem zwischen Geldvermehrung und Bedürfnisbefriedigung. Wenn’s um Profite geht, werden Grenzen überschritten oder gezogen. Weil der Kapitalismus die Geldvermehrung als Endzweck hat, ist er so dynamisch
- dem zwischen der öffentlichen Macht des Staates und der privaten Macht des Kapitals. Das führt dazu, dass nicht klar ist, wer wie über Nachhaltigkeitsangelegenheiten entscheidet
- dem zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit. Bei dem Widerspruch geht es um die gerechte Wert- und Wohlstandsschöpfung durch das, was als Care-Arbeit zusammengefasst wird
- dem zwischen privater Verwertung des biophysikalischen Reichtums der Erde dessen öffentlicher Reparatur
Die neuen globalen Dynamiken könnten zur weiteren Vergrauung des grünen ökoemanzipatorischen Projekts beitragen.
In der deutschen Übersetzung des Brundtland-Berichts der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung hieß „sustainable“ noch „dauerhaft“. Es ging darum, „das Wirken der Menschen mit den Naturgesetzen in Einklang zu bringen.“ (1 S. 1), die Lebensgewohnheiten der Wohlhabenden in einer Weise zu verändern, „die den ökologischen Möglichkeiten unseres Planeten angemessen ist.“ (1 S. 10).und die Wirtschafts- und Umweltbehörden zu verpflichten, sich mit den ökologischen Folgen der Produktion und des perspektivlosen Wachstums auseinandersetzen. (1 S. 12).
Welchen Nutzen haben die kapitalistischen, auf Innovation, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit ausgerichteten Nachhaltigkeitsansätze für den Planeten und die zwischenmenschliche Solidarität? Müssen die traditionellen westlich geprägten Nachhaltigkeitsdiskurse neu justiert werden? Kann es einen profitablen Wettbewerb auf Nachhaltigkeitsmärkten geben? Wo liegen die Grenzen des Marktes und der technologischen Innovation? Welche Kosten erzeugt die Untätigkeit beim Klima- und Naturschutz?
„Wenn die Umwelt verseucht und die Wirtschaft krank ist, wird man den Virus, der beides verursacht hat, im Produktionssystem finden.“ (5)
Nachhaltig Öl gefördert
Guyanas Wirtschaft boomt. Im Weltrisikoindex stieg Deutschland von Platz 162 im Jahre 2020 auf Platz 98 im Jahr 2024. Guyana fiel im selben Zeitraum von Platz 6 auf 74, obwohl Guyana zu den Staaten im südamerikanisch-karibischen Raum gehört, die von einem Anstieg des Meeresspiegels im Zuge des Klimawandels besonders stark betroffen sein werden (6) (7) .
Guyana erlebt seit Beginn der Rohölförderung vor der Atlantikküste im Jahr 2019 ein historisches Wirtschaftswachstum. Der Staat verteilt jetzt 100.000 Guyana Dollar Bargeld (450 Euro) an jede Bürgerin und jeden Bürger (8)
Guyanas Regenwälder umfassen rund 85% der Landesfläche und speichern 19,5 Milliarden Gigatonnen Kohlenstoff. Der junge Petrostaat monetarisiert dies über die Hess Foundation mit 1 Milliarden US-Dollar (9) und gleicht so die CO2-Bilanz aus.
Die ehemalige britische Kolonie Guyana hat ca. 814.000 Einwohnerinnen und Einwohner, die eine große Leidenschaft für Cricket und Calypso-Musik pflegen . Präsident Irfaan Ali will mit Guyanas Öl- und Gassektor ein langfristiges, nachhaltiges Wachstum aufbauen und sich als wettbewerbsfähiger Partner der Region etablieren. (10) (11)
COP 16 abgebrochen
Der Frieden mit der Natur ist noch in weiter Ferne, ihre Kommerzialisierung rückt näher. Die 16. UN-Biodiversitätskonferenz (COP 16) im kolumbianischen Cali wurde nach Verlängerung am 2. November 2024 abgebrochen - ohne Einigung auf Finanzierungen und ohne eine Abschlusserklärung. (12) Sie musste beendet werden, weil nicht mehr genügend Delegierte vor Ort waren. Das Zeitmanagement passte am Ende nicht. Rund 23.000 Menschen haben an verschiedenen Konferenzen teilgenommen. Sie konnten ihre Flüge nicht mehr umbuchen.
Prof. Dr. Matthias Glauberecht (Universität Hamburg) bilanziert: „Angesichts des geradezu euphorischen Montreal-Moments der letzten COP-Konferenz vor zwei Jahren sind die bisherigen Ergebnisse der COP16 in Cali sicher eine Enttäuschung. Was bis heute vor allem fehlt, sind belastbare Festlegungen und Maßnahmen der meisten Unterzeichnerstaaten.“ Das gelte auch für Deutschland: „Dass Deutschland zwar Finanzmittel zur Umsetzung von Biodiversitätsstrategien etwa in den Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens zugesagt hat, ist wichtig und richtig. Aber selbst keine abgestimmte und zielführende Maßnahmenstrategie mit Kontrollmechanismen vorgelegt zu haben, ist ein Politik-Versagen und weiteres Armutszeugnis der derzeitigen deutschen Regierung.“ (13)
Das deutsche Umweltministerium reichte zum Ende der Konferenz einen im Kabinett nicht abgestimmten Entwurf einer nationalen Biodiversitätsstrategie ein. Nur knapp 40 der 196 Vertragsstaaten haben, wie in Montreal versprochen, Pläne vorgelegt, wie sie die Ziele des Weltnaturabkommens bei sich umsetzen wollen.
Dennoch gab es einige positiv bewertete Beschlüsse, die traditionell wirtschaftende lokale Gemeinschaften indigener Völker aufwerten, die Klima- und Biodiversitätsschutz verzahnen und großen Unternehmungen freiwillige Zahlungen in den sog. Cali-Fonds ermöglichen, wenn sie Geschäfte mit digitalisierten Gendaten von Tieren und Pflanzen aus armen Ländern machen. (14) (15) (16)
COP 29 verhohnepiepelt
„In Solidarität für eine grüne Welt“ lautet das Motto der 29. Weltklimakonferenz vom 11. - 22. November in Baku. Ilham Aliyef, Präsident der Republik Aserbaidschan ist davon angetan: „Dass wir einstimmig zum Gastgeberland der COP29 gewählt wurden, ist für uns eine große Ehre. Wir betrachten es als Zeichen des Respekts der internationalen Gemeinschaft gegenüber Aserbaidschan und unserer Arbeit, insbesondere im Bereich der grünen Energie.“ (17)
Die sowjetische Ex-Republik hat sich bereits international profiliert, u.a. mit Menschenrechtsverletzungen, als Petrostaat mit Schmiergeldfonds (18) oder mit einer großen Militäroffensive in der Region Bergkarabach, mit der 100.000 Menschen gezwungen wurden, in nur wenigen Tagen nach Armenien zu fliehen. (19) .
Aliyef bezeichnete die fossilen Energieträger Öl und Gas als ein Geschenk Gottes, das auf den Markt gebracht werden sollte. (20) Die Gaslieferungen aus Aserbaidschan über die Pipeline des Südlichen Gaskorridors sollen sich bis 2027 verdoppeln. (21)
Aserbaidschans Topverhandler íst Chef eines Ölkonzerns und war offenbar bereit, im Rahmen der COP 29 auch Öl- und Gasgeschäfte auszuloten. (22) Das galt wohl auch für die mindestens 1.773 akkreditierten Öl-, Gas- und Kohle-Lobbyisten. (60) Bei der letztjährigen UN-Klimakonferenz in Dubai hatten sich alle Staaten erstmals grundsätzlich auf eine Abkehr von diesen klimaschädlichen Energieträgern verpflichtet.
Die COP 29 sollte nach Ansicht der Klimaaktivistin Luisa Neubauer einen Aufbruch für mehr Klimaschutz darstellen. Angesichts der Absage mehrerer hochrangiger Staats- und Regierungschefs wie US-Präsident Biden, Chinas Staatschef Xi und Indiens Präsident Modi sowie Bundeskanzler Scholz und Frankreichs Staatspräsident Macron oder der EU-Kommissionschefin von der Leyen sei jetzt die Zivilgesellschaft gefordert. Die Klimakonferenz in Baku müsse ein Ort werden, wo die Kräfte noch mal gebündelt werden (23) Neubauers frühere Mitstreiterin Greta Thunberg hielt hingegen die sog. COP des Friedens für eine Greenwashing-Aktion mit schwarzrhumorigem Witz. Thunberg war nicht in Baku, auch weil alle Land- und Seegrenzen während der COP geschlossen waren und man nur per Flugzeug anreisen konnte. (24)
Trumpismus gewählt
Bei der US-Präsidentenwahl am 5. November 2024 setzte sich der antielitäre und unberechenbare Republikaner Donald Trump klar gegen seine demokratische Wettbewerberin Kamala Harris durch. Kommt es bei den Wählerinnen und Wählern gut an, wenn ein verurteilter Straftäter demokratische Institutionen untergräbt und dem reichsten Mann der Welt zusätzliche Macht verschafft? Oder haben die Demokraten an Bodenhaftung verloren?
„Demokraten wie Harris oder auch Walz können an den Rändern des Populismus knabbern, aber nicht, während sie gleichzeitig eine wirtschaftliche Vision um die Wünsche reicher Wall-Street-Berater herum aufbauen. […] Es hat etwas Seelenloses, wenn die Demokraten der Unternehmensgier und der Vermögensbildung Einzelner ein freundlicheres, sanfteres Gesicht geben, statt sich leidenschaftlich für eine öffentlich finanzierte Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung und bezahlbaren Wohnraum einzusetzen.“ (25) Trump hat offenbar das angesprochen, was US-amerikanische Arbeiterinnen und Arbeiter direkt betrifft: Wirtschaft, Verbrechen, illegale Einwanderung, Wokeness.
Trump will am 20. Januar 2025 zum zweiten Mal den Amtseid als Präsident der Vereinigten Staaten ablegen und verspricht ein goldenes Zeitalter für die USA. Gott habe ihn offenbar beauftragt, die Größe Amerikas wiederherzustellen, (26) die Grenzen abzuriegeln, die Fäulnis und Korruption in Washington zu beseitigen, die Steuern zu senken, einen US-weiten Raketenabwehrschild zu bauen und Männer aus dem Frauensport herauszuhalten. (27)
Sein Übergangsteam hat offenbar bereits die Durchführungsverordnungen und Proklamationen für den Ausstieg aus dem Pariser Klimaschutzschabkommen und für die Verkleinerung der Naturschutzgebiete vorbereitet, um mehr Bohrungen und Bergbau zu ermöglichen (28).
Mit Trump droht, dass auch die fossile Lobby und der Multimilliardär und High-Tech Unternehmer Elon Musk die Regierungsgeschäfte übernehmen. Trump hat Musk in Aussicht gestellt, Beauftragter für den Bürokratieabbau zu werden. Dann könnte der reichste Mann der Welt dafür sorgen, dass von ihm beklagte Regulierungen der Wirtschaft zurückgefahren werden - wovon sicherlich nicht zuletzt Tesla, SpaceX und andere seiner Unternehmen profitieren würden. Durch seine Geschäfte im Weltraum- und Satellitenbereich ist Musk schon heute ein Geheimnisträger – offenbar auch mit Kontakten zu Wladimir Putin. (29)
Ampel abgeschaltet
Das Ampel-Projekt eines Aufbruchs in die sozialökologische Transformation ist am 6. November 2024 nach eher sinnlosem Machtgerangel zerfallen. Grund waren Kontroversen im politischen Umgang mit Geld zur Förderung der Wirtschaft.
Deutschland habe die Kernschmelze einer Regierungskoalition erlebt, die auf dem Papier ideal für die Weltrettung aufgestellt war, meinte Friedrich Küppersbusch: „Die Grünen fordern Klimapolitik, die SPD sagt ‚aber die kleinen Leute‘, und die FDP sagt ‚scheißegal was, Hauptsache, es wird ein Geschäft draus.“ (30)
Das Handeln der Ampel-Koalition war für Außenstehende nicht besonders konsistent. Es schwankte zwischen Laisser faire, wirtschaftspolitischem Dirigismus, außenpolitischem Moralismus, finanzpolitischer Verbohrtheit, schräger (Nicht-)Kommunikation und persönlicher Profilierungssucht.
Der SPD-Vorstand wollte die Wirtschaft ankurbeln, Arbeitsplätze sichern und Beschäftigte entlasten (31). Das grüne Wirtschaftsministerium setzte den Impuls für eine neue Modernisierungsagenda mit Innovationsdynamik (32) und das gelbe Finanzministerium wollte kurz vorm Ende der Ampelkoalition eine Wirtschaftswende in Deutschland einleiten, (33)
Damit ist die nicht leicht nachvollziehbare Transformationsreise des Ampel-Bündnisses für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit beendet (34) und der Wahlkampf eröffnet.
Statt „Epochenwechsel“, Lust auf Zukunft und einen neuen Politikstil gab es eine „Zeitenwende“, neue Kriege und ein Krisenmanagement mit Kehrtwenden zu Lasten der natürlichen und sozialen Lebensgrundlagen. Statt vom russischen Gas ist Deutschland vom US-amerikanischen Gas abhängig. Die Ampel lieferte auch ein Beschleunigungsprogramm für den politischen Populismus.
Den Transformationsansätzen im Koalitionsvertrag fehlten sowohl die nötigen finanziellen Mittel als auch eine breite und offene Diskussion über die Förderung nachhaltiger und langfristig orientierter Investitionen. Der Ukraine-Krieg und dessen wirtschaftliche Folgen waren eine zusätzliche Belastung. Keine Einigkeit gab es hinsichtlich der Folgenbewältigung. Die Produktion brach ein, der Staat schwächelte.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023, das das Zweite Nachtragshaushaltgesetz 2021 für nichtig erklärte, entzog der Ampel-Koalition ihre brüchige Geschäftsgrundlage. Die Idee, eine nicht benötigte coronabedingte Kreditermächtigung in Höhe von 60 Milliarden Euro auf einen Klima- und Transformationsfonds (KTF) zu übertragen, war damit gescheitert. (35) Dabei galt der KTF als wesentliches Finanzierungsinstrument für Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Für ihn sollten von 2023 bis 2026 insgesamt rund 177,5 Milliarden Euro zur Verfügung stehen. (36) Die vom Haushaltsausschuss des Bundestags kurzfristig befragten Experten waren sich nicht ganz einig, wie mit dem Urteil rechtssicher umzugehen sei. (37)
Um die in sich widersprüchlichen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, zwingt das Urteil, neue Finanzierungsinstrumente zu entwickeln, die jenseits vom Blankoscheck oder vom hirnlosen Sparen liegen. Die Schuldenbremse wirft grundlegende Fragen nach der Verteilung von Wohlstand, der Gestaltung der Wirtschaft und der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen auf. Sie begrenzt sowohl die Investitionen in die Zukunftsfähigkeit als auch zukünftige Haushaltsüberlastungen.
Das Leitprinzip der Nachhaltigkeit gilt auch für die öffentlichen Finanzen. Mit ihnen wäre eine langfristige und gemeinwohlorientierte Tragfähigkeit herzustellen und gleichzeitig die Transformation der Volkswirtschaft hin zu einer dauerhaften Entwicklung zu unterstützen. Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer oder eine Finanztransaktionssteuer könnten dabei hilfreich sein. Öffentliche Förderung von perspektivlosem BIP-Wachstum ist hingegen nicht besonders nachhaltig. Eine sachliche Bilanz der Ampelkoalition bleibt wohl den Historikerinnen und Historikern überlassen.
Am 23. Februar 2025 wird ein neuer Bundestag gewählt. Nach derzeitigen Umfragen gäbe es dann eine CDU-geführte Regierungskoalition unter einem Bundeskanzler Friedrich Merz. Was dann aus der Nachhaltigkeitspolitik wird, hängt auch von den sich ankündigenden Veränderungen in Europa und der 2025er Architektur der im Bundestag vertretenen Parteien und 'Brandmauern' ab. Alle Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer werden wohl von "wirtschaftlicher Vernunft" sprechen, auf die Alltagssorgen der Menschen eingehen wollen und versprechen, "unser Land wieder auf Vordermann zu bringen". Man kann nie wissen, aber glauben. Im Wahlkampf geht's nicht um Wahrheiten, sondern um Mehrheiten...
Nachhaltigkeitsberichtserstattung entschlackt
Der Rat für nachhaltige Entwicklung (RNE) hat seinen neuen Berichtsrahmen „Nachhaltige Kommune (BNK 2.0)“ vorgelegt - mit einem Set aus 62 verpflichtenden Aspekten und 19 Kernindikatoren. Der RNE wünscht daher „allen Kommunen gutes Gelingen“ und ist „gespannt auf die vielfältigen Berichte und Reflexionsprozesse, die durch die künftige Nachhaltigkeitsberichterstattung angestoßen werden.“ (38)
Den Finanzmärkten schreibt der RNE eine Schlüsselrolle bei der Umsteuerung zu mehr Nachhaltigkeit zu. Er fordert dazu eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Finanzkultur. Ein wichtiger Schritt hierzu sei die Transparenz zur Nachhaltigkeitsleistung von Unternehmen (39)
Doch das ist nicht das, was wirtschaftsorientierte Akteure erwarten. Sie beklagen immer wieder die EU-Bürokratie und zielen vor allem auf die Nachhaltigkeitsberichterstattung. Deren Regelungen seien zu komplex und unverhältnismäßig. Die Bundesregierung solle sich dringend für ihre grundsätzliche Überarbeitung stark machen, um dem sich in einer tiefgreifenden Krise befindenden Wirtschaftsstandort Deutschland ein Aufbruchssignal zu senden.
Schließlich seien die Unternehmen „zahlreichen strukturellen Herausforderungen, insbesondere hohen Kosten für Energie, Löhne und Steuern, überbordender Bürokratie, langen Genehmigungsverfahren bei Investitionen sowie Arbeitskräftemangel, ausgesetzt.“ Daher habe die Unterstützung der Unternehmen Vorrang vor den Berichtspflichten, die den angekündigten Bürokratieabbau konterkarierten und mit einem viel zu hohen Erfüllungsaufwand verbunden seien. (40)
Jeder Monat mit fehlenden Reformen werde später nichts anderes als ein fehlendes Wachstumsjahr sein, meinte Christian Sewing, CEO der Deutschen Bank- „Denn unser Land braucht dringend Reformen, um endlich wieder zu wachsen, um unsere Wettbewerbsfähigkeit dauerhaft zu sichern, um den europäischen Zusammenhalt zu stärken, um die Verteidigungsfähigkeit in Zeiten globaler Konflikte sicherzustellen, aber auch um unsere Sozialsysteme zu finanzieren. Gleichzeitig gilt es den Rahmen zu schaffen, um die erheblichen Investitionen zu finanzieren, die dafür nötig sind – nicht zuletzt durch eine Stärkung der Kapitalmärkte.“ (41)
Die Kapitalmärkte dienen vorrangig dem Wachstum von Unternehmen und der Vermögensbildung Einzelner.
Wenn die als „Kaptalmärkte“ zusammengefassten Akteure in Banken, Investment-, Pensions- oder Hedgefonds, Versicherungen, Unternehmen und die Privatinvestoren nachhaltig agieren und investieren sollen, brauchen sie internationale Standards der nachhaltigen Buchhaltung und Risikobewertung. Unternehmen legen dazu ihre Nachhaltigkeitsrisiken und -auswirkungen offen. Die Staaten fixieren Mindeststandards für Ressourcenverbrauch, Emissionen und Arbeitsrechte und stellen sicher, dass Kapitalströme für die Umsetzung der Weltnachhaltigkeitsziele genutzt werden. Zentralbanken beziehen Nachhaltigkeitsrisiken in die Finanzaufsicht mit ein und verlangen von den Banken und anderen Finanzinstitutionen, diese Risiken in ihren Bilanzen einzubeziehen. Alles andere wäre greenwashing und nachhaltige Nichtnachhaltigkeit. (2)
Das jedoch ist offenbar das, was sich RWE-CEO Markus Krebber unter Nachhaltigkeit vorstellt. Er weiß nicht, was sich mit einer nachhaltigen Buchhaltung verbessern soll: „Wir müssen stärker auf das marktbasierte System setzen. […] Was wir nicht brauchen, ist diese ganze Überregulierung. […] Die Überregulierung verteuert die Energiewende. Dazu kommt die überbordende Bürokratie wie die ganze Nachhaltigkeitsberichterstattung etwa. Die kostet sehr viel Arbeitszeit und bringt wenig. Diese Berichte wird niemand lesen." (53)
Shell-Urteil aufgehoben
Das Den Haager Shell-Urteil vom 26. Mai 2021 verpflichtete erstmals einen Konzern dazu, seiner Verantwortung für die Klimakrise und seiner Sorgfaltspflicht beim Schutz der Menschen vor den Auswirkungen des Klimawandels gerecht zu werden. Die niederländische Richterspruch galt als Triumph für Milieudefensie und die 17.000 Einzelklägerinnen und -kläger. Shell beschloss danach, seinen niederländischen Sitz aufzugeben – allerdings auch aus steuerlichen Gründen.
Am 12. November 2024 kassierte das Berufungsgericht dieses Urteil. (42) Die Vorsitzende Richterin Carla Joustra erklärte: „Obwohl Shell als großer Öl- und Gaskonzern eine besondere Verantwortung trägt, bedeutet dies nicht, dass das Unternehmen zu einer pauschalen Senkung seines CO2 - Ausstoßes um 45% verurteilt werden kann.“ (43) Das sei ein Rückschlag für die Klimabewegung und Millionen Menschen auf der ganzen Welt, sagt Donald Pols, der Direktor von Milieudefensie, verspricht aber so lange weiterzumachen, bis alle Umweltverschmutzer grün sind. (44)
Der Jurist und Journalist Reinhard Müller bewertete die Entscheidung des Berufungsgerichts als gutes Urteil, weil Umweltschutz im „Wege eines selbst erklärten Widerstandsrechts gegen demokratische Entscheidungen“ nicht gelingen könne. (45)
Die Journalistin Kathrin Wilsch stellte fest: „Jetzt ist es offiziell. Die Zeiten der grünen Wende sind vorbei.“ (46) Daher begrüßte Shell die Entscheidung des Gerichts, denn nicht ein einzelnes Unternehmen, sondern nur eine kluge Politik könne den Fortschritt in Richtung Netto-Null-Emissionen vorantreiben. (47)
Es ist nicht so einfach mit der klugen Politik. Denn multinationale Unternehmen wie Shell lassen sich nur schwer in einen nationalstaatlichen Ordnungsrahmen einfügen. Droht der Begriff der Corporate Social Responsibility (CSR) nachhaltig zu verfloskeln? Reicht es aus, die Unternehmen im Rahmen der Corporate Sustainibility Directive (CSRD) zu verpflichten, einen Klimaschutzplan aufzustellen, ohne dass seine Einhaltung gerichtlich überprüfbar ist?
Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist noch nicht rechtskräftig, ein Revisionsverfahren vor dem Höchsten Gericht ist noch möglich, doch der mediale Abgesang auf Klimaklagen gegen klimaschädliche Unternehmen ist unüberhörbar: „Erdölfirmen bedienen die nach wie vor große Nachfrage nach Erdöl und Gas, längst vor allem von außerhalb der wohlhabenden Staaten. Würde ein Unternehmen bestraft, würden andere die Nachfrage decken. […] Fossile Energie ist weiterhin leicht verfügbar und einsetzbar, das macht sie attraktiv. Nur wirtschaftlich attraktive Alternativen könnten die Umlenkung der Energienachfrage auf CO2 – arme Technologien nachhaltig gewährleisten […] ohne dass Gerichte die Nutzung von Energie verbieten, die Wohlstand schafft.“ (54)
Europäischer Green Deal ausgebremst
Der Europäische Green Deal sollte das Wohlergehen der Menschen, des Planeten und der Wirtschaft verbessern, bis 2050 ein klimaneutrales Europa schaffen, das in Kreisläufen wirtschaftet, die Natur regeneriert, um auch für künftige Generationen einen gesunden Planeten zu sichern. Grünes Wachstum lautete das Leitbild – ermöglicht durch innovative Geschäftsmodelle und technologischen Fortschritt. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen verglich den Green Deal 2019 mit dem Apollo-Projekt. Sie versprach eine europäische Mondlandung. Doch die Kritik daran war von Anfang an groß (48). Wirtschaftsverbände und konservative Politiker und Politikerinnen argumentierten, dass
- die Kosten des Green deal die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie gefährden
- die Nachhaltigkeitsbürokratie und europäische Regulierungswut Innovationen und Investitionen hemme
- die erneuerbaren Energien eine sichere und bezahlbare Energieversorgung gefährdeten
- der Green deal das Wirtschaftswachstum behindere
- und er Wohlstand und Freiheit der Menschen einschränke.
Menschen aus Politik und Wirtschaft ärmerer Staaten befürchteten, dass strenge sozialökologische Standards in Europa die eigene wirtschaftliche Entwicklung behindern könnten.
Die Strömungen gegen den Green Deal unterstützen den Kulturkampf gegen grüne Wokeness und haben dazu beigetragen, dass die Europäische Kommission sich mittlerweile im Modus der Rückwärtsverteidigung befindet und Teile des Green deals selbst in Zweifel zieht.
Jetzt spricht Ursula von der Leyen lieber von Aufrüstung und Bürokratieabbau als von Biodiversität und Klimawandel. Kein einziges EU-Land ist bei der grünen Transformation im Plan. Der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck kritisierte, dass man bei guter Intention völlig falsch abgebogen sei und wollte mit Abschreibungsbeschleunigungen, Bürokratieabbau und allerlei gesetzlichen Entschlackungen für einen Wachstumsturbo in Deutschland sorgen oder beim Lieferkettengesetz „die Kettensäge anwerfen und das ganze Ding wegbolzen.“ (49)
Der Green deal sollte der EU und Deutschland zu neuem Wachstum verhelfen und Europa zum Weltmarktführer bei den Grünen Technologien machen, doch das Versprechen habe sich als falsch erwiesen, bilanzierte Brüssel-Korrespondent Eric Bonse in der TAZ: „Das deutsche Wachstum ist ein schlechter Witz und die EU ist wirtschaftlich weit zurückgefallen. Bei 'Green Tech' hat Europa sogar den Anschluss verloren. Sonnenkollektoren und Windräder werden mittlerweile in China produziert, energieintensive Unternehmen sind in die USA abgewandert oder planen dies zu tun. Das Gespenst der 'Deindustrialisierung' geht um in Europa.“ Es gäbe weder Programme zur Klimaanpassung noch zur sozialen Abfederung der Transformationskosten: „Der soziale Teil des Green Deal wurde de facto aufgekündigt. Dabei kommt das dicke Ende noch. Der europäische Emissionshandel – das wichtigste Markt-Instrument – sieht kräftig steigende Preise vor. Ab 2027 werden auch Gebäude und Verkehr in den Handel einbezogen. Dann dürfte es für die Verbraucher richtig eng werden.“ (50).
Es trägt auch nicht zur Glaubwürdigkeit des europäischen Green Deals bei, dass er den Anstieg der Treibhausgasemissionen durch die Waffenproduktion und die Zunahme aller Arten von militärischen Aktivitäten in Europa praktisch ignoriert. Im Gegenteil: Die EU-Kommission macht Sicherheit und Verteidigung zur Top-Priorität. Jetzt möchte die Rüstungsindustrie Investitionen in „Verteidigung, Resilienz und Sicherheit“ als nachhaltig werten, da sie Frieden sichern und so erst Nachhaltigkeit ermöglichen würden. Der Lobby-Einfluss ist groß.
Nachdem die EU-Kommission 2022 auf Drängen von Deutschland und Frankreich Atomstrom und Erdgas als nachhaltig eingestuft hat, könnte der Weg zu den nachhaltigen Panzern, Bomben, Raketen und Kampfflugzeugen nicht mehr allzu lang sein. Was wird aus dem Clean Industrial Deal?
Entwaldungsfreie Lieferketten zerrissen
Unser Konsum steht in direktem Zusammenhang mit Waldzerstörung. In den letzten 30 Jahren hat die Erde 420 Millionen Hektar Wald verloren, eine Fläche, die insgesamt größer als die Europäische Union ist. Entwaldung und Waldschädigung tragen auf vielfältige Weise zur globalen Klimakrise und zum Verlust an biologischer Vielfalt bei. Abgeholzte, beschädigte und zerstörte Wälder verlieren ihre Funktion als CO2 -Senke. Statt Treibhausgase abzumildern, befeuern kranke Wälder den Klimawandel. (55)
Ziel des European Green Deals war es auch, dass die europäischen Konsumenten ab 2025 nicht mehr zur weiteren globalen Entwaldung beitragen. Um die fortschreitende Abholzung von Wäldern zu verhindern, um Biodiversität zu schützen und Treibhausgasemissionen zu senken, sollte die EU-Verordnung für entwaldungsfreie Lieferketten (EUDR) sicherstellen, dass Produkte nur dann in der EU verkauft werden, wenn Hersteller über entsprechende Geodaten und Fotos nachweisen können, dass dafür nach 2020 keine Wälder gerodet wurden. Das Gesetz sollte für alle in der EU ansässigen Importeure, Verarbeiter und Verkäufer von Kakao, Kaffee, Soja, Rindern, Palmöl, Kautschuk und Holz gelten. (56)
Darauf hatten sich hatten sich Rat, Kommission und Parlament geeinigt. Vor der Europawahl 2024 hatte auch die EVP der EUDR zugestimmt. Die Verordnung ist am 30. Juni 2023 in Kraft getreten und wäre ursprünglich nach einer Übergangszeit von 18 Monaten ab dem 31. Dezember 2024 anzuwenden gewesen. Kleine Unternehmen hätten ein halbes Jahr mehr Zeit gehabt, um die Entwaldungsverordnung umzusetzen. Aus betroffenen Unternehmen gab es Widerstand gegen die vermeintliche Brüsseler Regulierungswut. Die Bereitstellung angekündigter Leitlinien, IT-Systeme, Risikoeinstufungen und Umsetzungshilfen verzögerte sich. Der deutsche Landwirtschaftsminister wollte den Anwendungsstart verschieben. (61). Am 2. Oktober 2024 erklärte die Europäische Kommission, dass sie die Entwaldungsverordnung erst ab 31. Dezember 2025 gelten solle (57)
Doch den europäischen Konservativen rund um CDU/CSU reichte das nicht. Sie nutzten am 14. November 2024 die letzte formale Abstimmung, um gemeinsam mit den Stimmen der Liberalen, der Patrioten für Europa und der Fraktion „Europa der Souveränen Nationen“ das Inkrafttreten der EUDR weiter auf die lange Bank zu schieben, indem sie 15 Änderungsanträge stellten und zum Teil wieder zurückzogen.
Das Verfahren soll wieder geöffnet werden, um noch substanzielle Änderungen und Ausnahmeregelungen für Produkte aus Europa einzufügen. Die Verordnung behandelte urspünglich alle Weltregionen gleich.
Jetzt muss das Europaparlament erneut mit dem Ministerrat verhandeln. Auch der hat die Entwaldungsverordnung bereits angenommen. Sollte es keine neue Einigung geben, würde die Verordnung in ihrer ursprünglichen Form zum 31.Dezember 2024 in Kraft treten.
Die EVP hat mit den Anträgen die mit "German-Vote" verbundene deutsche Unzuverlässigkeit bei der Umsetzung des European Green deal verstärkt. Sie will mit politischen Extrawürsten europäische Regionen aus dem Entwaldungsverbot herausnehmen und damit handelspolitische Nachhaltigkeitsfortschritte wieder zurückschrauben. Zudem hat sie die politische Brandmauer zu den Rechtsextremen und Klimaleugnern eingerissen.
Jutta Paulus von den deutschen Grünen kommentierte dies unter Verweis auf den EVP-Fraktionschef von der CSU: „Donald Trump wäre stolz auf Manfred Webers Kampf gegen die EU Umweltpolitik. Mit ihrem Vorstoß gegen das Waldschutzgesetz bricht Webers EVP die längst erodierende Brandmauer noch weiter und baut eine Brücke zur rechten Seite des politischen Spektrums.“ (4) CDU-Umweltpolitikerin Christine Schneiders hielt das jedoch für unproblematisch. Man arbeite nicht mit den rechtsextremen Fraktionen zusammen. „Aber sie haben die Anträge unterstützt, weil sie sie für richtig hielten. Das sind alles Mitglieder des Parlaments.“ (58)
Nachhaltigkeit ausgelaugt
Der Begriff und Idee der Nachhaltigkeit ist verbunden mit Zeiten, die vom Wirtschaftswunder, von der 1968er Bewegung, dem Kalten Krieg, der Supermacht USA der europäischen Integration, dem Vietnamkrieg, von Woodstock, Robert Jungk, Willy Brandt, der Frankfurter Schule, der Konsumkritik, dem Antimilitarismus, der Fortschritts- und Industriekritik und von einem gewissen Zukunftsoptimismus geprägt waren.
Auch der Einfluss der FDP auf den Nachhaltigkeitsdiskurs ist nicht zu unterschätzen: Die wollte 1971 mit gezielten Maßnahmen an „den kritischen Punkten des kapitalistischen Systems“ ansetzen, um mit einem effektiven und humanen Kapitalismus Menschlichkeit und Gerechtigkeit für alle Bürger sicherzustellen, gab dem Umweltschutz den Vorrang vor dem Gewinnstreben und forderte ein Grundrecht auf eine menschenwürdige Umwelt: „Gewinnsucht auf Kosten der Umwelt muß hart bestraft werden. Verhängte Geldstrafen müssen auf jeden Fall über dem Gewinn liegen, der durch Unterlassung von Umweltschutzmaßnahmen erzielt wurde. Lebens- und gesundheitsgefährdende Produktionsmethoden müssen durch administrative Standards und Kontrollen nach Art eines 'Lizensierungsverfahrens' geregelt werden. Nichteinhaltung dieser Auflagen führt zu strafrechtlichen Sanktionen und zivilrechtlicher Gefährdungshaftung. […] Die Kosten der Umweltbelastung werden grundsätzlich nach dem Verursacherprinzip aufgebracht. Es gilt Gefährdungshaftung. Die Kosten des Umweltschutzes sind Kosten der Produktion. Jede nach dem jeweiligen Stand der Technik noch nicht vermeidbare Belastung muß abgabepflichtig werden. Technische Möglichkeiten, Umweltbelastungen zu mindern oder ganz zu verhindern, werden zwingend vorgeschrieben, wenn notwendig, auch bei Altanlagen.“ (51)
Der Begriff der Nachhaltigkeit sollte nach dem Ende des Kalten Krieges die Freiburger Thesen, die Ökobewegung, die Befreiungsorganisationen, der Umwelt- und Naturschutz, die Dritte Welt mit Entwicklung, Stabilität, profitabler Ressourcennutzung und dem Kapitalismus vereinen. Damit wurde auch die Aushandlung grundlegender systemischer Konflikte zwischen Interessen und Ideen konsensual verkleistert und Diskurse über Mensch- Natur-Verhältnisse, kapitalistischen Stoffwechsel und die Zwänge des Wachstumsdrucks aufgesogen.
Aus der bedrohten analogen Zukunft in den Zeiten der Brundtland-Kommission ist mittlerweile eine bedrohte Gegenwart mit neuen digitalen und gesundheitlichen sowie wiedererstandenen politischen Risiken geworden.
„Die säkularisierten Gesellschaften Europas erleben, wie sich Krise auf Krise türmt, während die politische Gestaltungskraft immer ohnmächtiger wirkt und Europa immer randständiger zu werden scheint. Die Veränderungen sind nicht mehr schleichend, sondern stampfend - und sie betreffen nicht mehr nur jene, die am Rand der Gesellschaft vor sich hin krebsen: sie sind angekommen bei denen die mittendrin sind.“ (59)
Seit 'Corona' 'Ahrtal' oder 'Valencia' ist jedem bewusst, dass die Auswirkungen der Veränderungen von allen lebenden Menschen vor Ort bewältigt werden müssen. (52)
Und dort können nicht wenige dem ökoemanzipatorischen Projekt nicht mehr folgen, fühlen sich unverstanden, abgehängt, nicht respektiert, fremd. Sie halten Wettbewerb und Konkurrenz für normal, haben Angst vor Arbeitsplatzverlust und das Gefühl, dass in den letzten Jahren viel kaputt gegangen ist, definieren ihre Identität konsumistisch und ihre Sexualität biologisch. Sie sprechen, wie sie es gelernt haben, warten lange auf Arzttermine, ärgern sich über fehlende Wohnungen, hohe Lebensmittelpreise und ungerechte Renten, über unzuverlässige Kitabetreuungen und Pflegedienste und gehen dabei einem systemrelevanten und homeoffice-freien Beruf nach, der in der Corona-Zeit auf den Balkons beklatscht wurde. Politische Populistinnen und Populisten haben die Menschen als Wählerpotenzial entdeckt. Im Nachhaltigkeitsdiskurs spielen sie noch eine untergeordnete Rolle.
Wie hilfreich sind in dieser Situation parteiübergreifende Diskussionen über Nachhaltigkeitstrategien, Indikatorensets und klimaneutrales Wirtschaftswachstum? Wie werden die Öko-Aktivistinnen und - aktivisten durch die auf den 23. Februar 2025 vorgezogene Bundestagswahl motiviert? Geht es in der Politik nur noch darum, fundamental widersprüchliche Interessen abzuwägen und zu versuchen, das Tempo der Zerstörung und des Zerfalls zu verlangsamen? Wer oder was treibt eigentlich die entscheidenden Akteure in Wirtschaft, Verwaltung, Fintech, Politik oder Wissenschaft an? Was bedeutet die Zeitenwende für demokratische Strukturen?
Volkswirtschaften können auch in autoritären Regimen wachsen. Der Kapitalismus braucht keine Moral. Die freie Marktwirtschaft führt nicht zur Maximierung des Wohlbefindens. Die fundamentale Schlüsselfrage lautet: Warum werden unsere natürlichen Lebensgrundlagen zerstört?
Kathrin Wilsch: „Die Klimabewegung hatte ihren Moment - dann kam Corona, dann der Ukrainekrieg und dann die Inflation. Die Welt hatte auf einmal andere Probleme. […] Was bleibt, ist das hehre Ziel der Klimaneutralität. Ob 2030, 2045 oder 2050 spielt dabei immer weniger eine Rolle. […] Wer glaubt, dass die Stimmung jederzeit wieder umschlagen kann, der möge daran erinnert werden, dass Deutschlands nächster Bundeskanzler höchstwahrscheinlich Friedrich Merz heißen wird. Ein Mann, der Windräder für eine Übergangstechnologie, Elektroautos für eine Nische und Fusionsenergie für die Rettung hält. Gut, dass wir schon in diesem Jahr über das 1,5 Grad Ziel hinaus sind. Sonst hätte man sich fälschlicherweise noch der Hoffnung hingeben können, dass die Menschheit rechtzeitig zur Einsicht kommt.“ (46)
Im November 2024 sind offenbar marktbasierte, deregulierte, bürokratiearme, für Trübsal sorgende Anti-Nachhaltigkeitskonzepte en vogue. Sie sollen fossile Geschäftsmodelle fördern. Der dadurch entstandene grünvergrauende Nachhaltigkeisblues kann kurzfristig mit frischer Luft, fairer Schokolade und geselligen Abenden ausgeglichen werden.
Langfristig werden Musikerinnen und Musiker gebraucht, die einen graubegrünenden Nachhaltigkeitsboogie anstimmen. „Denn das, was wir Struktur, System und Gesetz nennen, sind am Ende einzelne Menschen, die einander gegenübersitzen und miteinander verhandeln. Zwischen diesen Menschen kann sich etwas zusammenfügen, was am Ende mehr ist als die Summe seiner Teile." (59)
Grau, Herr Prantl, ist alle Theorie und nur das Business ist grün...
Verweise
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7.Bündnis Entwicklung Hilft und Ruhr-Universität Bochum. WeltRisikoBericht 2020. [Online] 15. September 2020. https://entwicklung-hilft.de/wp-content/uploads/2020/09/WeltRisikoBericht-2020.pdf
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23. Neubauer, Luisa. „Jetzt erst recht!“. Deutschlandfunk. [Online] 12. November 2024. https://www.deutschlandfunk.de/cop29-trump-und-ampel-aus-alles-aus-interview-mit-luisa-neubauer-fff-dlf-b74765fd-100.html
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46. Wilsch, Kathrin. "Drill, baby drill". Shell Motto bleibt. Handelsblatt vom 13. November 2024
47. Shell. Shell begrüßt Urteil des niederländischen Berufungsgerichts. [Online] 12. November 2024. https://www.shell.de/ueber-uns/newsroom/zur-sache/shell-begruesst-urteil-des-niederlaendischen-berufungsgerichts.html
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50. Bonse, Eric. Vom Scheitern des Green Deal. [Online] 31. Mai 2024. https://taz.de/Kompetent-versenk https://taz.de/Kompetent-versenkt/!6012533/
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53. Finke, Björn und Nienhaus, Lisa: "Überregulierung verteuert die Energiewende" - Interview mit Markus Krebber. Süddeutsche Zeitung vom 14. November 2024
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59. Prantl, Heribert. Licht. Süddeutsche Zeitung vom 15. Oktober 2024
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Kommentar
Mittwoch, 23. Oktober 2024
Nachhaltig Sudern: Toxische Pommes und die Grenzlandgrünvergrauung
Sie ist ein satirisches Internetphänomen der Generation Z, beschäftigt sich mit Kultur- und Mentalitätsunterschieden, integrierte "die Ausländerin in sich" erfolgreich weg, schlug sich als Juristin in einer Wiener Behörde durch und hielt sich am 10. Oktober 2024 zu einer Lesung bei den 14. Nettetaler Literarturtagen in der Kaldenkirchener Alten Fabrik auf. Was könnte sie mit Grünvergrauung und einer nachhaltigen Zukunftsgestaltung zu tun haben? Lesen Sie mehr und beteiligen Sie sich an einer Umfrage.
Dienstag, 8. Oktober 2024
Die zehnte NRW-Nachhaltigkeitstagung und die wunderbare Welt der Grautöne
Am 7. Oktober 2024 fand in der historischen Stadthalle Wuppertal mit 750 Teilnehmenden und 60 Ausstellern die 10. NRW-Nachhaltigkeitstagung statt. Die NRW-Nachhaltigkeitstagungen dienen seit ihrer Duisburger Premiere am 21. November 2012 als Austauschplattform der so genannten Nachhaltigkeitsakteurinnen – und akteure aus Verwaltung, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft.
Sowohl NRW-Umweltminister Oliver Krischer als auch NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur nahmen aktiv in Wuppertal teil, die Umweltverbände nicht. Das Team „NachhaltigesNRW“ machte damit deutlich, worum es bei dieser Tagung ging: Nachhaltigkeit aus der Blase der ‚Ökoszene‘ herauszuholen, ihre gesellschaftliche Akzeptanz zu erhöhen und sie als Leitbild und Geschäftsmodell für die Wirtschaft zu etablieren. Bisher sieht es so aus, als würde “die Wirtschaft” Nachhaltigkeit als bürokratisches Monster mit lästigen ESG-Berichtspflichten wahrnehmen.
Wirtschaftswachstum sei unentbehrlich, betonte Neubaur: „Unsere soziale Marktwirtschaft ist ein Erfolgsmodell.“ Sie gehe allerdings zu Lasten der Erde, denn „irgendjemand zahlt immer die Rechnung, wenn Nachhaltigkeit nicht der Treiber ist.“ Daher sei es notwendig Wirtschaftswachstum in die Bahnen der Nachhaltigkeit zu lenken, „Nachhaltigkeitsinseln“ entstehen zu lassen und Leitmärkte für nachhaltige Geschäftsmodelle aufzubauen.
Nachhaltigkeitspolitik und ein defektes Stellwerk
Nachhaltigkeitspolitik will gleichzeitig den sozialen Zusammenhalt und die Generationengerechtigkeit stärken sowie die ökologische und die wirtschaftliche Entwicklung verbessern - und das mit globaler Perspektive im Rahmen der planetaren Grenzen.
Die spannende Frage ist, wie daraus wettbewerbsfähige und gewinnbringende Geschäftsmodelle entstehen werden - in einer Zeit, in der kleine Unverpackt- oder Bioläden um ihr wirtschaftliches Überleben kämpfen.
Bekanntlich ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) kein guter Indikator für derartige Geschäftsmodelle. Es erfasst zwar wirtschaftliche Aktivitäten, berücksichtigt aber nicht deren Auswirkungen. Verkehrsunfälle, Katastrophen, Raubbau, Umweltverschmutzung tragen so zum Wirtschaftswachstum bei. Der Indikator gibt zudem keine Auskunft über die Verteilung des Wohlstands und ignoriert alle nicht marktwirtschaftlichen Aktivitäten wie ehrenamtliche Arbeit oder Hausarbeit.
Er müsse daher durch einen Nachhaltigkeitsindex ergänzt werden, unterstrich Oliver Krischer, der als Verkehrsminister auch einen Sektor vertrete, der nicht „on track“ sei. Er versprach, die ÖPNV-Misere in NRW mittelfristig und die transparente Kundeninformation über sie kurzfristig zu verbessern.
Wie dringend das ist, konnten die Tagungsteilnehmer*innen bestätigen, die die Rückreise von Wuppertal per ÖPNV über Düsseldorf antraten und wegen eines defekten Stellwerks zwischen Düsseldorf Hauptbahnhof und Düsseldorf-Gerresheim in Wuppertal-Vohwinkel strandeten. Sie erlebten, welche überraschende Zeitverzögerungen Fahrtabbrüche Zugausfälle und Falschinformationen über Zugalternativen und Schienenersatzverkehr hervorrufen können…
»Prall gefüllt und knackig«
Das Programm der 10. Nachhaltigkeitstagung war mit Kurzdiskussionen, Impulsvorträgen, Projektvorstellungen aus NRW (DIDOMOS, FidAR, BauenWohnenArbeiten, Green.OWL, Plastic Fischer GmbH, KluG, 3 E’s 4 Africa, Sonnenwagen) sowie Tanz- und Musikaufführungen prall gefüllt. Die Teilnehmenden konnten sich zwar mit Handabstimmungen und Mentimeter-Fragen beteiligen, verlegten aber viele Diskussionen unter- und miteinander ins Foyer der Stadthalle.
Intensivere Auseinandersetzungen hätten einige Beiträge, Projekte, Erkenntnisse, Anmerkungen, Analysen und Thesen verdient, z.B.
- Hans-Christian Leonhard (unternehmer nrw) zur Bürokratie
- Julia Merkelbach (Unternehmerin) zu den Nachhaltigkeitsmärkten
- Bernhard Conzen (Rheinischer Landwirtschaftsverband) zur Ernährungssicherheit
- Prof. Dr. Christina van Haaren (Uni Hannover) zu den Treibern des Flächenverbrauchs
- Jörn Luft (trias) zum Boden als Gemeingut
- Prof. Dr. Christa Liedtke (Wuppertal-Institut) zur Verteilungsgerechtigkeit und vermeintlichen Konsumentensouveränität
- Prof. Dr. Alexandra Philipsen (Universitätsklinik Bonn) zu den Verknüpfungen von Diversität, ADHS und Autismus
- Regine Kreitz (AG Kommunikation und Demokratie) zur Empfängerorientierung
- Bettina Milz (Pina Bausch Zentrum) zur Bedeutung der analogen Stadtteilkommunikation
- Prof. Dr. Friedrich Edelhäuser (Universität Witten-Herdecke) zur Sinnsuche
- Jochen Trum (Westdeutscher Rundfunk) zum aus der Balance geratenen Biotop der öffentlichen Meinung und der Rolle der Plattformgiganten
- Wolfgang Marquardt (Green.OWL)
- Paul Claußen (Sonnenwagen)
- Contimi Kenfack Mouafo (3 E’s 4 Africa)
Andrea Thilo versuchte, mit ihrer Moderation den Referierenden kurze prägnante Merksätze zur ihrer Arbeit und ihren Thesen herauszukitzeln. Dennoch könnte sich eine Lektüre der hoffentlich zeitnah erscheinenden Tagungsdokumentation als Steinbruch für neue Ideen und Impulse erweisen.
Die kaum überschaubaren Herausforderungen einer nachhaltigen Welt und die offensichtliche Nicht-Nachhaltigkeit der Gegenwart führten auch zu Wuppertaler Phantasien von einer „wunderbaren Welt der Grautöne“ (Mona Neubaur) oder einem Angriff von Aliens als Treiber für global-nachhaltiges Handeln, den die Referentin und zukünftige Astronautin Dr. Suzanna Randall ins Spiel brachte.
Dass Nachhaltigkeit mit Zwiespalt, Zielkonflikten und paradoxen Überfrachtungen verbunden sein kann, verdeutlichte der „Erfinder der Zukunftskunst“ Prof. Dr. Uwe Schneidewind. Der ehemalige Direktor des Wuppertal-Instituts amtiert derzeit als Oberbürgermeister und verabschiedete sich direkt nach seinem Eröffnungsvortrag, um Wuppertal auf der Expo Real, der internationalen Fachmesse für Immobilieninvestitionen in München, zu repräsentieren. Die Anreise erfolgt aus Zeitgründen wahrscheinlich per Flugzeug, wie die Essener Beigeordnete Simone Raskob vom Podium aus vermutete….
Hinweise
NRW 2030: Programmablauf Nachhaltigkeitstagung 2024
https://nrw-nachhaltigkeitstagung-2024.de/programm/programm.html
NRW 2030: NRW-Nachhaltigkeitstagungen
https://nachhaltigkeit.nrw.de/nachhaltigkeitstagungen
Dienstag, 12. März 2024
Klimakrise oder Systemkrise? - Über Gutachten des Bundesrechnungshofs und der Europäischen Umweltagentur
Gutachten des Bundesrechnungshofs zum Stand der Energiewende und der Europäischen Umweltagentur zum Schutz vor Klimafolgen werfen grundsätzliche Fragen zur politischen und wirtschaftlichen Steuerungsfähigkeit im Rahmen der nachhaltigen Entwicklung auf. Denn seit einem halben Jahrhundert wissen die Menschen, dass am Ausstieg aus den fossilen Energien kein Weg vorbeiführt und dennoch ist viel zu wenig passiert. Vielleicht liegt es daran, dass der menschengemachte Klimawandel nicht mit der Menschheit, sondern mit der kapitalistischen Industrialisierung begann. Lesen Sie mehr