Freitag, 5. März 2021
Viersener Vielfaltsgrün: Von Bakterien lernen?
Mindestens drei Eigenschaften haben Bakterien und grüne Politiker*innen gemeinsam.
- Sie werden oft unterschätzt und manchmal verachtet.
- Sie stehen in Wechselwirkung mit fast allen Lebewesen.
- Die Verarmung ihrer Vielfalt stört das Wohlbefinden und macht am Ende krank.
Jetzt haben die Viersener Grünen eine vierte Bakterieneigenschaft für sich entdeckt: Die Vermehrung durch Spaltung. Könnte sie womöglich ein "politisches Geschäftsmodell" auch für andere Parteien werden?
Politisches Geschäftsmodell?
Es klingt nach AFD und Absurdistan. Eine Partei – zwei Fraktionen. Aber es bringt Mehrwert für die praktische Ratsarbeit:
- mehr finanzielle Unterstützung,
- mehr Rede- und Mitwirkungsrechte
- bessere Präsenz in Ausschüssen
- mehr Auskunfts- und Antragsrechte
Das könnte doch den politischen Wettbewerbern zum Vorbild gereichen. Theoretisch bietet die Viersener Ratsgeschäftsordnung viel Potenzial für Spaltungsvermehrung. Die CDU könnte noch zehn, die SPD fünf und die Grünen noch drei weitere Fraktionen begründen...
Das "Reizvolle" am Viersener Fraktionsmehrungsmodell: Es geht ohne anstrengende politische Debatten. Denn offenbar reicht es zur Fraktionsverdoppelung, wenn unüberbrückbare persönliche Konflikte erklärt werden. In pandemischer Zeit kein besonders schwieriges Unterfangen. Umarmungen und Händeschütteln gelten schon seit einem Jahr als gesellschaftliches Tabu erklärt.
Vielfaltsstatut
Hilfreich bei der Fraktionsmehrung ist zudem ein möglichst allgemein formuliertes Vielfaltsstatut. Das haben die Grünen am 18. Dezember 2020 als erste Partei in Deutschland verabschiedet. Die Grünen wollen Ressourcen für Räume und Strukturen zur Verfügung stellen, damit sich Menschen mit Diskriminierungserfahrungen austauschen, vernetzen und gegenseitig stärken können. Der Schwalmtaler Linkshänder kann sich somit ebenso angesprochen fühlen wie die Viersener Ratsfrau, die des Verrats bezichtigt wird, weil sie ihr CDU-Mandat nach der Wahl der grünen Fraktion zuordnet.
In der Präambel des Statuts heißt es: „Die Vielfalt unserer Partei ist unsere Stärke. Wir teilen politische Macht und verstehen uns als Bündnispartei, die auf der Grundlage gemeinsamer Überzeugungen offen ist für unterschiedliche Erfahrungen, Vorstellungen und Ansätze. Wir sind auf vielfältiges biographisches Erfahrungswissen und vielfältige Perspektiven aus der ganzen Breite der Gesellschaft angewiesen, um als Partei umfassende Antworten auf Fragen zu finden, die uns als gesamte Gesellschaft betreffen. Diesem Selbstverständnis nach ist es unser Anspruch, dass bei uns alle Menschen, die unsere Werte und Ziele teilen, die Möglichkeit haben, sich gleichberechtigt einzubringen, ihre Interessen zu vertreten und ihre Themen zu repräsentieren – ohne Barrieren, Hürden oder Vorurteile. Diese wollen wir in unseren Parteistrukturen finden und einreißen. Dazu gehört auch, unsichtbare, ausschließende Strukturen sichtbar zu machen. Wir wollen sie überwinden und den Zugang zu gleichberechtigter politischer Teilhabe gewährleisten.“
Öffnen derartige Formulierungen nicht auch Türen für einen Extremindividualismus?
Identitätspolitik und Cancel Culture
„Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft?" fragte der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in einem am 23. Februar 2021 erschienenen FAZ-Essay. Er löste damit vielfältige Reaktionen aus - vom kritischen Gegen-Essay über SPD-internen Gesprächsbedarf bis hin zum böswilligen Shitstorm über einen alten weißen heterosexuellen Mann, der rassistisches Blackfacing verteidigt.
Thierse kritisiert, dass Themen kultureller Zugehörigkeit, also Fragen der Identität „unsere westliche Gesellschaften“ mittlerweile mehr zu erregen und zu spalten drohen als verteilungspolitische Gerechtigkeitsthemen. Der Identitätspolitik gehe es zu wenig um die gemeinsame Kultur aus Lebensstilen, Erinnerungen und ästhetischen Formen. Stattdessen stünden persönliche Betroffenheit, Sichtbarkeit, Einfluss, Aufmerksamkeit und Anerkennung im Focus.
Identitätspolitik stehe in der Gefahr, sich der Mühsal von rationalen Diskussionen zu entziehen und stattdessen die eigene Identität und Befindlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Über eine „Cancel Culture“ würden Menschen ganz aus dem gesellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen, wenn rationale Argumente identitär zurückgewiesen werden.
Am 3. Februar 2021 gründeten rund 70 Wissenschaftler*innen ein "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit". Sie beklagen eine zunehmende Verengung, von Fragestellungen, Themen und Argumenten in der akademischen Forschung. An vielen Universitäten sei ein Klima entstanden, in dem abweichende Positionen und Meinungen an den Rand gedrängt und moralisch sanktioniert werden. Dahinter stecke häufig eine ideologische oder politische Agenda zur Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit. "Cancel Culture und Political Correctness haben die freie und kontroverse Debatte auch von Außenseiterpositionen vielerorts an den Universitäten zum Verschwinden gebracht."
Wie angemessen ist eine derartige Dramatisierung? Wie bewertet das Netzwerk den Druck der Drittmittelfinanzierung, oder shitstorms gegen Virolog*innen, Klimaforscher*innen? Was ist mit der europäischen Wissenschaftsfreiheit, zum Beispiel in Ungarn? Wie defizitär ist die wissenschaftliche Aufarbeitung von grundlegenden Ökosystemfunktionen, von Sklaverei, Frauenunterdrückung, Homosexuellenfeindlichkeit, Rassismus, Eurozentrismus oder Kolonialismus? Wo bleiben die Lehrstühle zur pluralen Ökonomie? Geht es gar um eine Wiederbelebung einer Vereinigung wie die "Stimme der Mehrheit"?
In einer Zeit der schnellen Schlagzeilen, Paywalls und "Gefällt mir" - Klicks sind öffentliche Debatten oft überdreht, überhitzt und überreizt. Auf leise Abwägung wird mit aggressiver Zurechtweisung reagiert. Wer sich freut oder ärgert, denkt nicht: Was haben die vielen Politiker*innen- Tweets, die Gruppenfotos, lockeren Sprüche oder "Ich war dabei - Selfies" eigentlich mit ernsthafter Gesellschaftsgestaltung zu tun? Können kommunale Klimamanager*innen mitten im politisch gewollten kommunalen Zuständigkeitswust und Leerlaufmanagement das Klima retten? Was ist mit Bürger*innenräten, Planungszellen oder anderen Formen der unorthodoxen demokratischen Mitwirkung? Wie und wo kann eigentlich "vor Ort" parteiübergreifend, ernsthaft, offen und diskrimierungsfrei über den Umgang mit den großen Herausforderungen des komplexen Erdsystems debattiert werden?
Das grüne Vielfaltsstatut beschreibt auch eine Aufgabe der öffentlichen und gemeinwohlorientierten Daseinsvorsorge.
Wer ist wir?
Schlussstrich-Floskeln wie „Ok Boomer" oder das Gerede von den alten weißen Männern zeigen:
Gesellschaftliche Verständigung wird nicht leichter. Indizien gibt es reichlich. Eins davon: der 18- jährige Fridays for Future-Aktivist Paul Schilling wollte SPD-Direktkanditat in Minden-Lübbecke werden. Er forderte den SPD-Fraktionsvize und Babyboomer Achim Post heraus. Dabei ging es Schilling weniger um Kritik an den SPD-Werten als um Kritik an den kollektiven Identitätszwängen: „Wir müssen als Partei in der Gegenwart ankommen, das ist mit Gesichtern von gestern schwer“. Es sei daher "besser, unerfahren die unvermeidliche Transformation anzugehen, als erfahren die Katastrophe zu ignorieren.“ Schilling erntete dafür bei den Delegierten einen Achtungserfolg von 20% der Stimmen...
Das mit den Gesichtern von gestern hätte auch eine Grüne oder ein Grüner im Kreis Viersen sagen können. Nachdem sich die Babyboomer der Partei im letzten Jahrzehnt an Formalien und Organisationsfragen fast auseinanderdividiert hätten, liegt ihnen bis heute viel an Abgrenzung und Geschlossenheit nach außen.
Bilder und Texte auf der Homepage vermitteln die Botschaft, dass ein weder besonders junges noch besonders buntes "Wir" 35 Jahre lang gemeinsam Politik und Leben im Kreis mitgestaltet habe, dieselben Rechte für alle wolle, die Tradition respektiere und den Kreis kenne wie seine Westentasche. Ein Blick in die Räte von Brüggen, Tönisvorst oder Kempen zeigen: Auch die Grünen im Kreis Viersen waren nicht immer abgeneigt, alte Widersprüche mit neuen Feindbildern zuzudecken. Bevorzugen es nicht auch die Grünen, ihre Parteiarbeit eher an „gehorsamen Funktionären" in den Ortsverbänden und Ratsfraktionen als an „widerspenstigen Mitgliedern“ auszurichten? Warum funktioniert es nicht so richtig zwischen Junggrünen und Altgrünen? Wie wird sich die Viersener Doppelung auf die Organisation des Orts- oder Kreisverbandes auswirken?
Eine Partei - Zwei Fraktionen?
Die Vorgänge bei den Viersener Stadt-Grünen haben mit der Intention des grünen Vielfaltsstatuts wenig zu tun. Es geht beim Streit wohl nicht um Klasse, Herkunft, Glauben, Aussehen oder Sexualität. Es geht offenbar eher um Gefühle der Wertschätzung und Missachtung. Angeblich sei einigen Neugrünen die Macht in den Kopf gestiegen, bevor auch nur eine politische Idee produziert wurde. Macht verleitet bekanntlich zu Arroganz und Ignoranz. Das gilt gleichsam für Machteinsteiger*innen und altgediente Funktionäre.
Bevor allerdings die Grünen ihren Wähler*innen die Vorgänge genauer erklären müssen, werden wohl Verwaltungsjurist*innen die Frage beantworten, ob Ratsmitglieder, die sich politisch einig, aber persönlich zerstritten sind, unter dem Dach einer Partei zwei Fraktionen bilden dürfen. Die Begründung eines Nein dürfte nicht leicht werden, da Ratsmitglieder ein freies Mandat ausüben und sich nach der Geschäftsordnung zu Gruppen und Fraktionen zusammenfügen können. Aber auch Geschäftsordnungen lassen sich ändern...
Wie selbstverständlich nehmen sich viele Menschen als einzigartiges Individuum wahr. Doch in der Regel sind nur zehn Prozent der Körperzellen menschlich, die restlichen 90 Prozent gehören anderen Lebewesen, wie eben den Bakterien. Corona hat uns deutlich gemacht, wie schnell durch Zweiteilung neue Biotope entstehen können. Mikroorganismen spielen im Leben eine wichtigere Rolle als das verletzte Ego grüner Kommunalpolitiker*innen. Daher haben führende Mikrobiolog*innen aus der ganzen Welt bereits Juni 2019 dazu aufgerufen, in den Studien und Maßnahmen zu Transformation und Erderhitzung die kleinsten Bewohner der Erde nicht zu vergessen...