Donnerstag, 19. November 2020 - zuletzt bearbeitet am 22.11.2020
Waldnieler Blutbuche: Denkmalstod am Buß- und Bettag
Das Blutbuchenpaar am Eingang zum Evangelischen Friedhof am Häsenberg in Schwalmtal-Waldniel war älter als alle Bürger*innen der Gemeinde. Es hat Kriege, Unwetter und etliche Kommunalreformen überlebt. Es stand als Naturdenkmal unter dem besonderen Schutz des Kreises Viersen. Doch der Schutzpatron hatte eine der beiden Buchen bereits im Sommer 2020 für sterbenskrank erklärt. Die andere gilt auch nicht mehr als gesund. Am 18. November 2020 wurde die erste Buche abgesägt. Zwei Arbeiter der Brüggener „Behnke - Baumpflege GmbH“ trennten vom Hubsteiger aus Aststück für Aststück mit der Motorsäge. Ein Teil des Stamms steht noch. Der 18. November 2020 war Buß- und Bettag – ein evangelischer Feiertag. Dessen Ursprung passt zum „Tod des Naturdenkmals“.
Baumstress
Seit dem Sommer 2018 stehen viele Bäume unter Stress. Im dritten Jahr in Folge ist wenig Regen gefallen. Schlechte Luft und ungünstige Standorte sind weitere Stressfaktoren. Vielen Baumarten fehlt mittlerweile die Kraft, sich gegen Pilze und Parasiten zu wehren. Flächendeckend sterben in diesem Jahr die Fichten. Trockene Sommer haben sie anfällig für den Borkenkäferbefall gemacht...
Die Häsenberg-Blutbuche war nicht die erste, die in den vergangenen Monaten in der Region abgesägt werden musste und es wird nicht die letzte sein. Totholz bildete sich in den Baumkronen, die Blätter wurden kleiner. Im Spätsommer dieses Jahres zeigten sich erstmalig Pilzfruchtkörper des Riesenporlings am Stammfuß . Sie gelten als deutliches Indiz für eine lebensbedrohliche Schädigung. Rettungsversuche mit Mykorrhiza-Nutzpilzen waren vergeblich.
Die letzten drei Trockensommer scheinen auch die - als unerschütterlich geltenden - Baumriesen an ihre Grenzen zu bringen. Die Flachwurzler bekommen zu wenig Wasser. Die Erderhitzung sorgt für frühen Frühling. Das Frühjahr 2020 übertraf den bisherigen Rekord bei der Sonnenscheindauer bei Weitem und gehörte zu den wärmsten und trockensten Frühjahren seit 1881, dem Beginn der Aufzeichnungen durch den durch den Deutschen Wetterdienst (DWD).
Die Buchen treiben vorzeitig aus. Setzen dann - wie 2020 - noch mal Spätfröste ein, sterben die Triebe ab. Irgendwann platzt die Rinde auf, große Rindenstücke brechen ab. Der Baum verliert seine schützende Haut...
Der am 20. November 2020 veröffentlichte Waldzustandsbericht für NRW meldet, dass sich der Zustand der Buchen 2020 stark verschlechtert hat. Auch mittelalte Bäume starben. Viele warfen ihre Blätter bereits Mitte August 2020 ab. Ob sie sich noch erholen können, wird sich frühestens in 2021 zeigen.
Normalerweise liefert das Winterhalbjahr genügend Feuchtigkeit, um trockene Sommer auszugleichen. Doch wenn’s auch im Winter zu wenig regnet und schneit, wird es für die Bäume problematisch. Förster*innen sprechen vom zweiten Waldsterben. Das erste Waldsterben in den 1980er Jahren – Stichwort saurer Regen - konnte durch eine konsequente Politik der Rauchgasentschwefelung und Luftreinhaltung eingedämmt werden. Unter anderem wurde der Katalysator eingeführt. Die Luftbelastung mit Schwefeldioxid hat seither drastisch abgenommen.
Baumgesundheit ist eine komplexe Angelegenheit. Symptome lassen sich manchmal nur schwer auf eine Ursache zurückführen. Forscher*innen entdecken immer wieder neue Einflüsse…
Gotteszorn
Ihr Ende fand die alte Waldnieler Blutbuche am Buß- und Bettag. Der evangelische Feiertag geht zurück auf die biblische Erzählung des Propheten Jona. Er verkündete eher widerwillig der als gottlos geltenden Stadt Ninive den drohenden Untergang.
Was der Prophet nicht für möglich gehalten hatte, trat ein. Ninives König hüllte sich daraufhin „in den Sack und setzte sich in die Asche“. Er befahl seinen 120.000 Untertanen mit Fasten, Buße und Bekehrung das Strafgericht Gottes abzuwehren.
Jona zog nach der Verkündigung deprimiert in eine Hütte, Gott tröstete ihn mit einer Schatten spendenden Staude, ließ sie aber verdorren. „Die Sonne stach Jona auf den Kopf, dass er matt wurde“ und sich den Tod wünschte.
Gott aber hielt Jonas Ärger wegen einer vertrockneten Staude für unangemessen. Schließlich habe Jona sie weder aufgezogen, noch sich um sie bemüht. Viel mehr Anlass zum Jammern hätte Ninive geboten , einer großen Stadt, die die Orientierung verloren habe, in der die Menschen nicht wissen, was rechts und links ist. Die Buße ließ den Gotteszorn abklingen. Ninive wurde verschont...
Orientierungsschwierigkeiten
Die prophetische Geschichte erinnert an die Orientierungsschwierigkeiten, die entstehen, wenn von Entwicklung, Fortschritt oder Wertschöpfung die Rede ist.
Ein alter Baum braucht Zeit zur Entwicklung. Er erzeugt einen Wert, der durch wirtschaftliche Aktivitäten nicht so einfach neu geschöpft werden kann. Gerade im Sommer machen Bäume den Alltag erträglicher. Auch der biblische Jona freute sich über den kühlenden Schatten der Staude. Als sie verdorrte, wurde Jona matt und wünschte sich den Tod.
Lebensqualität und Wohlbefinden hängen an der so genannten grünen und blauen Infrastruktur. Bäume, Freiflächen, das Grundwasser, die Gewässer und ihre Ufer sind ein Gradmesser für den Gesundheitszustand eines Ortes und seiner Bevölkerung.
Diese zu erhalten und zu entwickeln, ist aktive Gesundheitsvorsorge und eine Herausforderung für Flächenplanung, Bodenschutz, Luftreinhaltung und Gewässermanagement. Doch die Vorsorge erzeugt Kosten. Die wiederum gelten als Nachteil im so genannten Standortwettbewerb. Der entpuppt sich zunehmend als ein Wettbewerb um schlechte Arbeitsbedingungen und ausbleibende Vorsorge…
Welchen wirtschaftlichen Sinn macht es eigentlich, wenn wir unsere Bäume und Grünanlagen wässern und dazu Arbeitskräfte und aufwendig aufbereitetes Trinkwasser in Anspruch nehmen müssen? Ist es nicht klüger in Vorsorge, Renaturierung, Klima-, Wasser- und Landschaftsschutz zu investieren, um die kosten-, aber nicht wertlosen Feuchtigkeitsdienstleistungen der Ökosysteme zu fördern?
Den Buß- und Bettag haben wir aufgegeben, um die Arbeitgeber von den Kosten für die gesetzliche Pflegeversicherung zu entlasten. Das hindert uns nicht daran, den Buchentod am Bußtag auf dem Schwalmtaler Friedhof als Anlass zum Nachdenken zu nehmen: über’s System, über „links und rechts“ über Sinn, Wert, Bewahrung und Entwicklung, über Klimafolgenanpassung oder auch über Zorn und Gnade…