niederrheinisch - nachhaltig 

04.10.2024

Viersener Wehmutsglut

Belgische Besatzung, Inflation, Instabilität und ein zaghafter Beginn der Goldenen Zwanziger…Der Niederrhein vor 100 Jahren war geprägt von einem komplexen Geflecht aus Unwägbarkeiten.  Am Samstag, dem 4. Oktober 1924 erschien in der Viersener Zeitung unter „Buntes Laub“ ein Text, der eine Wehmut erzeugende Pracht des herbstlichen Farbenspiels beschrieb und sie auf das Kommen und Gehen der Menschen übertrug…
186 Viersener.jpg»Der Herbst fällt in die Bäume ein wie eine Schar bunter Papageien. Das Laub verfärbt sich von Tag zu Tag mehr. Die Birnbäume in den Vorgärten und an den Straßen, die ins Land hineinführen, zeigen schon Farben von einer Glut, wie sie nur die letzte wehmütige Glut des Herbstes bringt.  Mitten zwischen grünen stehen die grellen Träume herbstlicher Fantasien, hinter denen ein wolkentürmender Himmel aufsteigt.

An den Häusern und Mauern loht der wilde Wein. Er hängt wie feuriges Haar über weiße Schultern und funkelt, wenn ihn der Wind aufwühlt. Weshalb schenkt uns der Herbst diese grelle Buntheit? Weshalb zaubert er noch einmal einen falschen Frühling herauf? Die Sonne geistert nur aus dem geheimen Leben der Blattflächen Phantasien und Unwirklichkeit hervor. Die Bäume sind so wehrlos wie Kranke, die vor dem Tode noch einmal in letzter Hoffnung erglühen. Jeder weiß, dass es vorbei ist mit ihnen, aber keiner sagt es; nur sie selbst wissen es nicht. Sie leben kurze Zeit noch dahin, als wäre es ein Leben, hektisches Rot auf den Wangen, verräterisches Gold auf den Stirnen, Grün und Lila an den Schläfen, bis das große Erblassen kommt und sie regungslos liegen von dem Leben abgebrochen wie ein Blatt von einem Zweig.

Die Blätter wirbeln über die Steine der Straßen hin, werden von breiten Besen der Straßenreiniger auf einen Haufen gefegt und dann fortgefahren, poesielos und in verletzender Nüchternheit. Die ganze Herrlichkeit des Frühlings und Sommers, die Tag und Nacht rauschte und das Auge erquickte, hat sich in bunten, irren Fetzen gelöst und wird beiseite geräumt wie die schalen Reste eines Liebesmahls, das zu Ende gegangen ist.

Warum das, du schlagendes Herz? Warum gehen die Blätter? Warum bleiben sie nicht? Auch du wirst nicht bleiben, andere kommen nach dir, ein neuer Menschenfrühling, der dich verdrängt. Im nächsten Jahr werden zarte Blättchen da sitzen, wo jetzt Astleere graust, und alles ist vergessen. Nach einigen Jahrzehnten werden neue Menschen an deiner Stelle sein, und du bist vergessen.
Alle Freude ist Schmerz, aber aller Schmerz ist Blüte des Lebens.«
Viersener Zeitung, Samstag, 4. Oktober 1924

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