Suchen
29.03.2024
SRU: Suffizienz als Strategie des Genug
Wieviel Energie brauchen wir für eine chemische Industrie, die Berge von Plastikverpackungen herstellt, welche nach einmaligem Gebrauch verbrannt oder in afrikanische Länder exportiert werden und am Ende als Mikroplastik in unserem Blut landet? Was ist gesellschaftlich notwendig und kann so produziert werden, dass die Erde nicht weiter aufheizt und die Lebensgrundlagen der Menschen hierzulande, anderswo und in der Zukunft nicht zerstört? Welche Rolle spielen jetzt und zukünftig Sparsamkeit, Selbstversorgung, Genügsamkeit, Lokalität, Reparaturfreude und Nachbarschaftshilfe? Das sind Fragen, die so oder ähnlich im Rahmen einer Nachhaltigkeitsdebatte auf der Tagesordnung stehen.
Effizienz, Konsistenz und Suffizienz gelten seit den 1990er Jahren als die drei Säulen der Nachhaltigkeit. Suffizienz zielt darauf ab, dass alle Menschen ausreichenden Zugang zu natürlichen Ressourcen haben und die planetaren Grenzen nicht überschritten werden.
Die Studie “Zukunftsfähiges Deutschland”(1) widmete der Suffizienz ein ganzes Kapitel, sprach von der „Eleganz der Einfachheit“ und beschrieb mit „Gut leben statt viel haben“ postmaterielle Wertorientierungen. Die Autoren warnten aber auch davor, die symbolische Macht der Waren zu unterschätzen. Und in der Tat: Das Begehren nach „Immer mehr“ ist offenbar so tief in die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und individuellen Alltagspraktiken eingeschrieben, dass die Studie skeptisch fragte, ob es sein könnte, „dass eine Gesellschaft, die ihre ganze Energie in die Erzeugung von Reichtümern investiert, kulturell nicht zukunftsfähig ist“ (1).
Während Effizienz und Konsistenz breite Zustimmung finden, weil sie Verbesserungen ohne Verzicht und sogar Wirtschaftswachstum versprechen, führt die Suffizienz ein gesellschaftliches und politisches Nischendasein - trotz aller Postwachstums- und Degrowth-Debatten um einen solidarischen Rückbau, um nachhaltige Stoffwechselpolitik, um Care-oder Donut-Ökonomie, um Commons, Kreislaufwirtschaft und ein gutes Leben …
2013 wollten Uwe Schneidewind und Angelika Zahrnt mit einem Buch zur Diskussion über Suffizienzpolitik ermuntern (2). Vom 15.-17.Mai 2023 setzte eine „Beyond Growth“-Konferenz im Europäischen Parlament den Startschuss für eine Debatte zur Überwindung veralteter Wirtschaftsmodelle, um – mit Blick auf die Europawahl im Juni 2024 – den European Green deal zu einem European Social and Green Deal weiterzuentwickeln. (3)
Doch bis heute hat sich kein Bundesministerium explizit und systematisch mit Suffizienzpolitik beschäftigt. Auch wenn’s nicht immer so benannt wird: Das deutsche Nachhaltigkeitsleitbild heißt „Grünes Wachstum“ – ohne Ausrichtung an fairen CO2-Budgets oder an der Einhaltung der planetaren Grenzen. (4)
Das soll jetzt anders werden, fordert der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU). Das siebenköpfige wissenschaftliche Gremium zur Beratung der Bundesregierung hat am 21. März 2024 sein Diskussionspapier „Suffizienz als ‚Strategie des Genug‘ veröffentlicht. (5)
Wolfgang Lucht, SRU-Mitglied und Leiter der Abteilung Erdsystemanalyse am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, sagt: „Es ist unbestreitbar, dass wir ökologisch über unsere Verhältnisse leben. Gleichzeitig haben viele Menschen keinen ausreichenden Zugang zu Energie und Ressourcen. Wie kann unsere Zivilisation also ökologischer und zugleich gerechter werden? Die Auseinandersetzung mit solchen Fragen ist nicht einfach, angesichts der Krisen aber Teil eines notwendigen Lernprozesses.“ (6)
Ökologische Krisen häufen sich weltweit, die meisten planetaren Belastungsgrenzen sind bereits überschritten. Vor diesem Hintergrund müsse das Thema Suffizienz mehr in den Mittelpunkt öffentlicher Debatten rücken. Der Sachverständigenrat betont, Suffizienz sei nicht nur eine individuelle Lebensstilfrage, sondern eine gemeinsame gesellschaftliche und politische Verantwortung, nachhaltige Wirtschafts- und Lebensweisen zu entwickeln. (6)
„Die polarisierte Debatte zwischen ‘grünem Wachstum’ und ‘Postwachstum’ bringt uns nicht weiter“, meint Prof. Claudia Kemfert. „Klar ist: Bereiche, die der Umwelt und dem Klima schaden, dürfen nicht immer weiter wachsen. Seit Jahren besteht Einigkeit, dass Wohlfahrt mehr ist als das Bruttoinlandsprodukt. In der Praxis schlägt sich dies allerdings immer noch zu wenig nieder.“ (6)
Das SRU-Papier erläutert in 16 Thesen das Fundament, die Zusammenhänge, die Notwendigkeit und die Herausforderungen der Suffizienz:
1. Suffizienz ist für eine Stabilisierung der Erde innerhalb planetarer Grenzen unerlässlich.
2. Suffizienz ist Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben aller in planetaren Grenzen.
3. Suffizienz ist notwendiger Teil einer Strategie, um schädliche Eigendynamiken der Technosphäre einzuhegen.
4. Suffizienz kann den Bedarf an Rohstoffen reduzieren und zu ihrer langfristigen Verfügbarkeit beitragen.
5. Die Verbreitung suffizienter Praktiken erfordert auch strukturellen Wandel.
6. Ressourcenintensive Lebensstile gefährden die Freiheit anderer und es gibt keinen moralischen Anspruch, dies zu ignorieren.
7. Suffizienz konfrontiert die Gesellschaft mit den Widersprüchen der westlichen Moderne.
8. Suffizienz erfordert ein zukunftsfähiges Wohlfahrtsverständnis und ein vorsorgeorientiertes Wirtschaftssystem.
9. Eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft setzt Suffizienz voraus.
10. Eine Politik der Suffizienz ist verfassungsrechtlich möglich und unter bestimmten Bedingungen sogar geboten.
11. Kultureller Wandel ist Voraussetzung für und Resultat von Suffizienzpolitik.
12. Suffizienz kann Baustein eines gelingenden Lebens sein.
13. Ökonomische Analysen zu Ökologie und Verteilungsgerechtigkeit bereichern den Suffizienzdiskurs.
14. Suffizienzpolitik wird auf gesellschaftliche Widerstände treffen.
15. Suffizienzpolitik muss sozial gerecht gestaltet werden und kann Ungleichheit verringern.
16. Es bedarf einer Verständigung auf zentrale Handlungsfelder für Suffizienzmaßnahmen.
Für den Hauptautor der Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“ Reinhard Loske war es höchste Zeit, dass der SRU sich systematisch mit Suffizienzpolitik beschäftigt und Vorschläge für eine “Strategie des Genug” unterbreitet.
„Die Suche nach dem rechten Maß, gutem menschlichen Miteinander und einem gelingenden Leben innerhalb natürlicher Grenzen ist eine Fundamentalfrage, die alle Kulturen, Philosophien und Religionen weltweit bewegt”, betont Loske gegenüber dem Klimareporter. Dort kritisiert er auch, dass Suffizienz von den wachstumszentrierten Gegenwartsökonomien zunehmend verdrängt oder von interessierter Seite sogar als “Verzichtsideologie” tabuisiert wurde. Das sei falsch. (7)
Der Klimareporter (7) und EUWID (8) beschäftigen sich mit dem SRU-Papier unter anderem mit den Perspektiven auf „Bauen und Wohnen“ oder „Kreislaufwirtschaft“.
Hinweis
Online-Veranstaltung am 29.04.2024 zum Diskussionspapier Suffizienz
Verweise
1. Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie - Reinhard Loske, Raimund Bleischwitz u.a. Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung - herausgegeben von BUND und Misereor. Basel : Birkhäuser Verlag, 1996. 3-7643-5278-7
2. Uwe Schneidewind, Angelika Zahrnt. Damit gutes Leben einfacher wird. Perspektiven einer Suffizienzpolitik. München : oekom, 2013. 978-3-86581-441-8
3. Beyond Growth. Pathways towards Sustainable Prosperity in the EU. [Online] [Zitat vom: 29. März 2024.] https://www.beyond-growth-2023.eu/
4. David Hofmann, Jannis Niethammer und Ulrich Petschow. Wie diskutieren Ministerien die Wachstumsfrage? Blog Postwachstum. [Online] 28. Februar 2024. https://www.postwachstum.de/wie-diskutieren-ministerien-die-wachstumsfrage-i-20240228
5. Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU). Suffizienz als “Strategie des Genug”. Eine Einladung zur Diskussion. [Online] 21. März 2024. https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2024_03_Suffizienz.pdf?__blob=publicationFile&v=12
6. Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU). Pressemitteilung zur Suffizienz als „Strategie des Genug“. [Online] 21. März 2024. https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020_2024/2024_03_PM_Suffizienz_als_Strategie_des_Genug.html
7. Jörg Staude. Nachhaltig ist: den Reichen weniger, den Armen mehr. Klimareporter. [Online] 21. März 2024. https://www.klimare … niger-den-armen-mehr
8. Tom Wilfer. SRU-Gutachten zu Suffizienz: Kreislaufwirtschaft muss über Recycling hinausgehen. EUWID. [Online] 21. März 2024. https://www.euwid-recycling.de/news/politik/sru-gutachten-zu-suffizienz-kreislaufwirtschaft-muss-ueber-recycling-hinausgehen-210324/
Grenzlandgruen - 22:10 @ Allgemein, Europa, Akteure und Konzepte, Wirtschaft und Finanzen, Infrastrukturen und Daseinsvorsorge | Kommentar hinzufügen
Archiv
2024: | Januar | Februar | März | April | Mai | Juni | Juli | August | September | Oktober | November |
2023: | Januar | Februar | März | April | Mai | Juni | Juli | August | September | Oktober | November | Dezember |
2022: | Januar | Februar | März | April | Mai | Juni | Juli | August | September | Oktober | November | Dezember |
2021: | Januar | Februar | März | April | Mai | Juni | Juli | August | September | Oktober | November | Dezember |
2020: | Oktober | November | Dezember |
Kategorien
- alle
- Allgemein
- Europa
- Region
- Kreis Viersen
- Schwalmtal
- Akteure und Konzepte
- Umwelt und Gesundheit
- Wirtschaft und Finanzen
- Raumplanung und Regionalentwicklung
- Kultur und Bildung
- Infrastrukturen und Daseinsvorsorge
- Strukturwandel im Rheinischen Revier
- Meckereien und Gemopper
- Grenzlandgrünschnitt
- Bündelmüll
- Medienhinweise
Kommentar hinzufügen
Die Felder Name und Kommentar sind Pflichtfelder.