niederrheinisch - nachhaltig 

Mittwoch, 21. September 2016

Cannabis in der Medizin – Marihuana auf Rezept?

In den letzten Jahren galt es eher als schmuddeliges Randthema. Heute ist es wieder im Mainstream angekommen:  „Cannabis in der Medizin“. Zur einer nachhaltigen Entwicklung gehört es, die medizinische Versorgung schwer erkrankter Patienten zu verbessern. Die  Bundesregierung hat daher einen Gesetzentwurf eingebracht, der ermöglichen soll, dass schwer kranke Patienten mit Cannabis-Arzneimitteln  versorgt werden können und zwar auf Kosten der Gesetzlichen Krankenversicherung. Eine Sachverständigenanhörung fand am 21. September  statt. 

Wenn der Gesetzentwurf Wirklichkeit wird, könnte das aufwändige Verfahren um eine Cannabis-Ausnahmegenehmigung der Bundesopiumstelle im Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte entfallen. Bisher haben es knapp 650 Menschen in Deutschland erfolgreich absolviert. Der ehemalige Straßenbauer Kai Barth aus dem Kreis Viersen ist einer von ihnen. Er schilderte jüngst bei einer VHS-Veranstaltung seine Krankheitsgeschichte. Anschaulich beschrieb er, wie er dank des regelmäßigen Cannabis-Konsums mit Ausnahmegenehmigung in den letzten Jahren als Alkoholiker trocken und als Epileptiker anfallsfrei lebt. Seine Schmerzen werden gedämpft und dadurch erträglicher. Die Nebenwirkungen seien viel geringer als mit herkömmlichen Schmerzmitteln. Das ermögliche ihm, sich ehrenamtlich für eine andere Drogenpolitik oder für die europäische Integration stark zu machen.

Dass die medizinische Wirkung von Cannabis wissenschaftlich gut belegt ist, machte Herbert Hochheimer in seiner VHS-Präsentation deutlich. Hochheimer hat viele Jahre in Amern als Arzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapie, Naturheilkunde, Suchtmedizin und Traditionelle Chinesische Medizin praktiziert und beschäftigt sich seit fast zwei Jahrzehnten wissenschaftlich mit der medizinischen Wirkung der Cannabinoide Tetrahydrocannabinol (THC), Cannabidiol (CBD) und Cannabinol (CBN). Im Gegensatz zur Therapie mit synthetisierten Einzelsubstanzen setzt der Einsatz von Pflanzendrogen in der Naturheilkunde genau auf deren teilweise antagonistischen Wirkprinzipien. Der höchste Gehalt an cannabinoidhaltigem Harz finde sich in den blühenden Spitzen der unbefruchteten weiblichen Pflanzen von Cannabis indica. Aus diesem Harz wird der medizinische Kulturhanf gewonnen, der bis zu 22% THC enthalten kann.

Mit einem historischen Streifzug des Einsatzes von Cannabis sativa machte Hochheimer deutlich, welch Jahrtausende alte Tradition hinter dem medizinischen Cannabis-Einsatz steht. Schon Herodot beschrieb ein bei den Skythen gebräuchliches Schwitzzelt mit Aufguss aus Cannabissamen, in dem sie „vor Wohlbehagen brüllen“. Die Germanen nutzten Cannabissamen zum Abführen und als Hustenmittel. Im 19. Jahrhundert wird Cannabis indica in europäischen Arzneimittelbüchern mit einer Vielzahl von Wirkungen belegt. Im 1938 erschienenen Lehrbuch der biologischen Heilmittel wird die medizinische Verwendung von Cannabis detailliert beschrieben. In ayurvedischen Überlieferungen gehört Cannabis zu den Soma-Pflanzen.

Mit der Entwicklung synthetischer Schmerzmittel, dem Opiumgesetz und dem Betäubungsmittelgesetz ging die medizinische Cannabis-Anwendung zurück. Noch gilt Cannabis-Harz nach dem Betäubungsmittelgesetz  in Deutschland als nicht verkehrsfähig. Daher sind die deutschen Apotheken auf teures Importmaterial angewiesen, wenn sie Cannabis an die rund 650 Menschen „mit „Sondergenehmigung“ verkaufen wollen. Das „Apothekengras“ dient der Selbstbehandlung. Trotz der erforderlichen aufwändigen medizinischen Begutachtung ist es noch keine Kassenleistung.

Anderes gilt bei den Cannabis-Zubereitungen Dronabinol/Marinol oder bei Nabilon, einem  vollsynthetischen THC.  Deren Kosten können die Kassen bei Vorliegen einer medizinischen Indikation und einem ärztlichen  Betäubungsmittelrezept bzw. einer sog. „off-label-Verordnung“ übernehmen.

Der Arzt, Autor und Cannabis-Aktivist Dr. Franjo Grotenhermen listet 62 Diagnosen auf, für die es bisher Cannabis-Ausnahmegenehmigungen gegeben hat:

Allergische Diathese, Angststörung, Appetitlosigkeit und Abmagerung (Kachexie), Armplexusparese, Arthrose, Asthma, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Autismus, Barrett-Ösophagus, Blasenkrämpfe nach mehrfachen Operationen im Urogenitalbereich, Blepharospasmus, Borderline-Störung, Borreliose, Chronische Polyarthritis, Chronisches Müdigkeitssyndrom (CFS), Chronisches Schmerzsyndrom nach Polytrauma, Chronisches Wirbelsäulensyndrom, Cluster-Kopfschmerzen, Colitis ulcerosa, Depressionen, Epilepsie, Failed-back-surgery-Syndrom, Fibromyalgie, Hereditäre motorisch-sensible Neuropathie mit Schmerzzuständen und Spasmen, HIV-Infektion, HWS- und LWS-Syndrom, Hyperhidrosis, Kopfschmerzen, Lumbalgie, Lupus erythematodes, Migraine accompagnée, Migräne, Mitochondropathie, Morbus Bechterew, Morbus Crohn, Morbus Scheuermann, Morbus Still, Morbus Sudeck, Multiple Sklerose, Neurodermitis, Paroxysmale nonkinesiogene Dyskinese (PNKD), Polyneuropathie, Posner-Schlossmann-Syndrom, Posttraumatische Belastungsstörung, Psoriasis (Schuppenflechte), Reizdarm, Rheuma (rheumatoide Arthritis), Sarkoidose, Schlafstörungen, Schmerzhafte Spastik bei Syringomyelie, Systemische Sklerodermie, Tetraspastik nach infantiler Cerebralparese, Thalamussyndrom bei Zustand nach Apoplex, Thrombangitis obliterans, Tics, Tinnitus, Tourette-Syndrom, Trichotillomanie, Urtikaria unklarer Genese, Zervikobrachialgie, Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma, Zwangsstörung“.

Dennoch. Für ein Wundermittel hält Herbert Hochheimer Cannabis nicht: „Es ist kein überlebenswichtiges Medikament und kein besonders potentes Schmerzmittel“. Aber als eine leicht zu handhabende Alternative oder Ergänzung in der Behandlung von Schmerzen oder den Nebenwirkungen einer Chemotherapie habe sich Cannabis in der Medizin bewährt.

Daher könnte der von der Bundesregierung in den Bundestag  eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften die medizinische Versorgung schwer kranker Patienten erleichtern. Eine Cannabis-Agentur würde der jetzigen Importabhängigkeit beim „Apothekengras“ entgegen wirken.

Ob damit auch die gesetzliche Freigabe von Cannabis für’s Kiffen also für den nicht medizinischen Konsum erleichtert wird, bleibt offen. Auch dazu gab es bereits im letzten Jahr eine Debatte und in diesem Frühjahr eine Anhörung im Bundestag. Auslöser war der Entwurf eines Cannabiskontrollgesetzes, das die grüne Fraktion in den Bundestag eingebracht hat. 

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